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Bundesgerichtshof entscheidet über erste Muster­feststellungs­klage zu langfristigen Prämien­spar­verträgen

12.10.2021

Am 06.10.2021 hat der Bundesgerichtshof (BGH) (XI ZR 234/20) laut Pressemitteilung über die erste von mittlerweile neun Musterfeststellungsklagen zu langfristigen Prämiensparverträgen entschieden. Dabei hat der BGH erstmals die Reichweite der Befugnis zur ergänzenden Vertragsauslegung in Musterfeststellungsklageverfahren gemäß § 606 ZPO konkretisiert und an seiner bisherigen Rechtsprechung zur Unwirksamkeit von Zinsanpassungsklauseln und zu den Parametern für die Zinsberechnung festgehalten. Die Entscheidung betrifft deutschlandweit voraussichtlich mehrere zehntausend langfristig angelegte Sparverträge, die insbesondere vor dem Jahr 2004 geschlossen wurden und Zinsanpassungsklauseln enthalten, die der Bank eine uneingeschränkten Befugnis zur Anpassung des Sparzinses einräumen sollen.

Das erstinstanzliche Urteil des Oberlandesgerichts Dresden

In seinem Urteil vom 06.10.2021 hatte der BGH über die Revisionen der beklagten Kreis- und Stadtsparkasse Sparkasse Leipzig und der klagenden Verbraucherzentrale Sachsen gegen das Musterfeststellungsurteil des Oberlandesgerichts (OLG) Dresden vom 22.04.2020 (1 MK 1/19) zu entscheiden.

In dem zugrundeliegenden Musterfeststellungsklageverfahren macht die Verbraucherzentrale insbesondere geltend, dass die von der Sparkasse verwendete Klausel mit einer uneingeschränkten Zinsanpassungsbefugnis in Prämiensparverträgen („Die Spareinlage wird variabel, z. Zt. mit … % p.a. verzinst.“) unwirksam sei und die während der Laufzeit der Sparverträge vorgenommene Verzinsung der Spareinlage zu niedrig gewesen sei.

Insgesamt verfolgt die Verbraucherzentrale sieben Feststellungsziele, die neben der Frage der Unwirksamkeit der vorgenannten Klausel insbesondere die Parameter der im Rahmen der ergänzenden Vertragsauslegung vorzunehmenden Zinsberechnung (Referenzzinssatz, Anpassungsschwelle, Anpassungsintervall und richtiges Verhältnis von anfänglichem Sparzins und Referenzzinssatz) und Fragen der Fälligkeit, Verjährung und Verwirkung von etwaigen Zins(nach)zahlungsansprüchen der Verbraucher betreffen.

Die Musterfeststellungsklage war in der ersten Instanz vor dem OLG Dresden teilweise erfolgreich. Das OLG Dresden stellte fest, (i) dass die Zinsänderungsklausel wegen eines Verstoßes gegen § 308 Nr. 4 BGB unwirksam war, (ii) die Zinsberechnung auf der Grundlage eines angemessenen Referenzzinssatzes monatlich vorzunehmen ist und (iii) Ansprüche auf weitere Zinsbeträge aus den Sparverträgen frühestens ab dem Zeitpunkt der Vertragsbeendigung fällig werden. Wegen fehlender Feststellungsfähigkeit im Rahmen eines Musterfeststellungsklageverfahrens wies es die Klage jedoch ab, soweit die Feststellungen begehrt wurden, dass (i) bei der Zinsberechnung der relative Abstand zwischen anfänglichem Sparzins und Referenzzinssatz zugrunde zu legen ist, (ii) die Zinsanpassung auf der Grundlage der Zeitreihe WX 4260 der Statistik der Deutschen Bundesbank als maßgeblichem Referenzzinssatz erfolgt und (iii) bestimmte Voraussetzungen für die Verjährung und Verwirkung der Ansprüche der Verbraucher nicht erfüllt sind.

Entscheidung des Bundesgerichtshofs

Der BGH hat – ausweislich der Pressemitteilung, die Entscheidungsgründe liegen noch nicht vor – das Urteil des OLG Dresden bestätigt, soweit die Musterfeststellungsklage Erfolg hatte.

Mit Spannung war insbesondere erwartet worden, ob der XI. Zivilsenat die vehemente Kritik im juristischen und finanzmathematischen Schrifttum zum Anlass nehmen würde, die Anpassung des Sparzinses anhand des absoluten Abstandes zwischen anfänglichem Sparzins und Referenzzinssatz zu erlauben und nicht mehr wie bisher auf der Anwendung des relativen Abstandes zu bestehen (vgl. BGH, XI ZR 197/09, Rn. 28; XI ZR 52/08, Rn. 25). Eine Änderung seiner Rechtsprechung hat der XI. Zivilsenat jedoch abgelehnt und sich dabei erneut darauf berufen, dass nur durch ein Abstellen auf den relativen Zinsabstand gewährleistet sei, dass „das Grundgefüge der Vertragskonditionen über die gesamte Laufzeit der Sparverträge erhalten bleibt, so dass günstige Zinskonditionen günstig und ungünstige Zinskonditionen ungünstig bleiben.“

Bestätigt hat der BGH zudem, dass Zinsanpassungen monatlich vorzunehmen sind und dass Ansprüche auf weitere Zinsbeträge aus den Sparverträgen frühestens ab dem Zeitpunkt der Vertragsbeendigung fällig werden. Da die Verjährung eines Anspruchs grundsätzlich dessen Fälligkeit voraussetzt, könnte das Urteil des BGH in bestimmten Konstellationen für die Frage relevant sein, wann etwaige Ansprüche von Verbrauchern verjährt sind.

Soweit die Musterfeststellungsklage vor dem OLG Dresden mangels Feststellungsfähigkeit der Begehren keinen Erfolg hatte, wurde das Urteil teilweise aufgehoben und die Sache an das OLG Dresden zurückverwiesen. Im Hinblick auf die Zurückverweisung gilt Folgendes:

  • Die Aufhebung und Zurückverweisung betrifft die fehlende Bestimmung eines geeigneten Referenzzinssatzes durch das OLG Dresden. Der XI. Zivilsenat hat – wie bereits zuvor für andere Sparprodukte (BGH, XI ZR 140/03; XI ZR 52/08; XI ZR 508/15) – den Langfristcharakter der von der Sparkasse Leipzig angebotenen Sparverträge bejaht und die Ansicht des OLG Dresden bestätigt, dass ein Zinssatz für langfristige Spareinlagen als Referenz für die Verzinsung der Spareinlagen heranzuziehen ist. Nach Ansicht des BGH betrifft die Frage, ob der im Rahmen der ergänzenden Vertragsauslegung zu bestimmende Referenzzinssatz für jeden einzelnen Vertrag gilt, jedoch nicht die Frage der Feststellungsfähigkeit eines solchen Referenzzinssatzes, wie das OLG Dresden mit Verweis auf die Möglichkeit von abweichenden Individualvereinbarungen noch angenommen hatte. Vielmehr werde diese Frage erst im Rahmen der Bindungswirkung des Musterfeststellungsurteils gemäß § 613 Abs. 1 ZPO relevant. Der Rechtsschutz durch die Musterfeststellungsklage geht damit nach Ansicht des XI. Zivilsenats weiter als im Rahmen eines Verbandsklageverfahrens nach dem UKlaG, in dem die Möglichkeit einer ergänzenden Vertragsauslegung abgelehnt wird (vgl. BGH, VIII ZR 25/06, Rn. 39).

  • Im Übrigen hat der BGH die Ansicht des OLG Dresden bestätigt, dass im Rahmen einer Musterfeststellungsklage keine Feststellungen zu nicht verallgemeinerungsfähigen Fragen der Verjährung und Verwirkung getroffen werden können. Die Frage, ob ein bestimmter Umstand geeignet ist, einem Verbraucher Kenntnis oder auf grober Fahrlässigkeit beruhende Unkenntnis von seinem Anspruch auf weitere Zinsbeträge zu verschaffen, lässt sich nach Ansicht des XI. Zivilsenats nur individuell abhängig von der Person des Verbrauchers beantworten. Ähnlich verhält es sich mit dem Einwand der Verwirkung, der neben einem Zeitmoment auch ein Umstandsmoment voraussetzt. Zeit- und Umstandsmoment können dabei nicht voneinander unabhängig betrachtet werden, sondern stehen in einer Wechselwirkung. Die Frage, ob ein Umstandsmoment vorliegt, das zusammengenommen mit dem Zeitmoment eine Verwirkung des Anspruchs des Verbrauchers rechtfertigt, kann daher nur individuell und nicht in einem Musterverfahren beantwortet werden.

Folgen für die Praxis

Für die Praxis herrscht nach der Entscheidung des BGH mehr Klarheit darüber, welche Fragen zum Gegenstand einer Musterfeststellungsklage gemacht werden können, insbesondere im Hinblick auf die Feststellung des Ergebnisses einer ergänzenden Vertragsauslegung.

In der Sache hat der BGH klargestellt, an seinen bisherigen Grundsätzen zur ergänzenden Vertragsauslegung bei unwirksamen Zinsanpassungsklauseln festzuhalten und insbesondere den relativen Zinsabstand als maßgeblich für die Zinsberechnung anzusehen. Das ist in Zeiten niedriger und fallender Zinsen vorteilhaft für den Verbraucher, im Falle steigender Zinsen indes vorteilhaft für das Institut. Eine abschließende Entscheidung, wie etwaige Ansprüche von Verbrauchern nachzuberechnen sind, steht noch aus. Wie bereits in der Vergangenheit, überlässt der BGH die Entscheidung darüber, welcher Referenzzins zugrunde zu legen ist, den Instanzgerichten.

Keine Bedeutung hat die Entscheidung für Sparverträge, in denen die Zinsänderungsbefugnis der Bank ausdrücklich an einen Referenzwert gebunden ist (sog. qualifizierte Zinsänderungsklauseln). Solche Klauseln haben Kreditinstitute insbesondere in Sparverträgen verwendet, die ab dem Jahr 2004 geschlossen wurden.

Mit dem Urteil des BGH sind somit bei Weitem noch nicht sämtliche Fragen hinsichtlich der Verwendung von Zinsanpassungsklauseln geklärt. Deshalb bleibt – jedenfalls bis zur Veröffentlichung der Urteilsgründe – auch unklar, welche Auswirkungen das Urteil des BGH für die Widerspruchsverfahren haben wird, die derzeit mehr als 1.100 Kreditinstitute gegen die am 21.06.2021 auf der Internetseite der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht bekanntgemachten Allgemeinverfügung bezüglich Zinsanpassungsklauseln bei Prämiensparverträgen führen. Feststehen dürfte jedenfalls, dass sich der Druck auf die Institute noch einmal erhöht und sie daher eine konsistente Strategie im Umgang mit möglichen Ansprüchen von Kunden benötigen. 

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