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Die Betriebs­parteien in der Corona-Krise: Auf Basis des neuen § 129 BetrVG sind - auch rückwirkend - virtuelle Betriebs­rats­sitzungen möglich

19.05.2020

Die Corona-Pandemie stellt Unternehmen vor enorme Herausforderungen gerade auch dann, wenn Arbeitsplätze erhalten und gesichert werden sollen. Denn viele wichtige Maßnahmen wie die Einführung von sozialen Verhaltensvorgaben (§ 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG), Maßnahmen zum Gesundheitsschutz (§ 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG), die Einführung von Kurzarbeit (§ 87 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG) oder Betriebsferien (§ 87 Abs. 1 Nr. 5 BetrVG) und sie begleitende Maßnahmen wie die Versetzung von Mitarbeitern (in das Home Office, § 99 BetrVG) erfordern in Betrieben mit Betriebsrat seine Mitwirkung (soweit - wie häufig - keine tarifliche Regelung besteht). 

Das setzt allerdings einen handlungsfähigen Betriebsrat voraus. Dessen Handlungsfähigkeit wurde in vielen Unternehmen aber durch - richtige und wichtige - Maßnahmen wie Kontaktverbote und „Social Distancing“ zur Vermeidung der Ausbreitung des Coronavirus (Covid-19; SARS-CoV-2) zunehmend in Frage gestellt. Diskutiert wurden deshalb intensiv Möglichkeiten, den Betriebsrat ordnungsgemäß zu beteiligen, ohne dass sich der Betriebsrat - wie überwiegend für erforderlich gehalten wurde - physisch zusammensetzen muss (vgl. unseren Beitrag). Ziel ist dabei, kurzfristig und rechtssicher Maßnahmen zum Schutz des Unternehmens und seiner Mitarbeiter umsetzen zu können. Die Politik - namentlich Bundesarbeitsminister Hubertus Heil - wollte dabei natürlich helfen. 

Um die Handlungsfähigkeit des Betriebsrats zu gewährleisten, hat der Gesetzgeber nun reagiert und die Einführung des neuen § 129 BetrVG beschlossen, der u.a. dem Betriebsrat und seinen Ausschüssen rückwirkend ab dem 01.03.2020 und zukünftig bis zum 31.12.2020 die Möglichkeit eröffnet, Beschlüsse mittels Video- oder Telefonkonferenzen zu fassen. Die neuen Regelungen treten mit Verkündung im Bundesgesetzblatt in Kraft (bis zum 19.05.2020 ist dies noch nicht geschehen).

Der neue § 129 BetrVG („Sonderregelungen aus Anlass der Covid-19-Pandemie“) lautet wie folgt:

  1. Die Teilnahme an Sitzungen des Betriebsrats, Gesamtbetriebsrats, Konzernbetriebsrats, der Jugend- und Auszubildendenvertretung, der Gesamt-Jugend- und Auszubildendenvertretung und der Konzern-Jugend- und Auszubildendenvertretung sowie die Beschlussfassung können mittels Video- und Telefonkonferenz erfolgen, wenn sichergestellt ist, dass Dritte vom Inhalt der Sitzung keine Kenntnis nehmen können. Eine Aufzeichnung ist unzulässig. § 34 Absatz 1 Satz 3 gilt mit der Maßgabe, dass die Teilnehmer ihre Anwesenheit gegenüber dem Vorsitzenden in Textform bestätigen. Gleiches gilt für die von den in Satz 1 genannten Gremien gebildeten Ausschüsse.

  2. Für die Einigungsstelle und den Wirtschaftsausschuss gilt Absatz 1 Satz 1 und 2 entsprechend.

  3. Versammlungen nach den §§ 42, 53 und 71 können mittels audiovisueller Einrichtungen durchgeführt werden, wenn sichergestellt ist, dass nur teilnahmeberechtigte Personen Kenntnis von dem Inhalt der Versammlung nehmen können. Eine Aufzeichnung ist unzulässig.

Die durch § 129 BetrVG eröffneten Handlungsspielräume werden bestimmten anderen Gremien in gleicher Weise durch Parallelregelungen im SprAuG, EBRG, SEBG und SCEBG eröffnet. 

Mit der vorgesehenen Rückwirkung ab dem 01.03.2020 sollen etwaig bereits auf Basis von Video- und Telefonkonferenzen geschlossene (Betriebsrats-)Beschlüsse, beispielsweise Betriebsvereinbarungen zur Einführung von Kurzarbeit, geheilt und somit Rechtssicherheit geschaffen werden (vgl. BT-Drucks. 19/18753, S. 28). Zugleich sollen - diesmal mit Blick in die Zukunft - die mit hohen Infektionsrisiken verbundenen Präsenzsitzungen möglichst vermieden und gleichzeitig die Handlungsfähigkeit der Arbeitnehmervertretungen sichergestellt werden (vgl. Pressemitteilung „Bundesregierung stellt betriebliche Mitbestimmung sicher“ vom 15.05.2020). Hier hilft der neue § 129 BetrVG definitiv. Eine Reihe an Fragen bleibt allerdings nicht leicht zu beantworten, u.a.:

  • Unter welchen Umständen haben Präsenzsitzungen Vorrang? 

  • Welche Video- und Telefonkonferenztools sind zulässig?

  • Wer ist dafür verantwortlich, dass Sitzungen nicht aufgezeichnet werden?

  • Wie werden datenschutzrechtliche Herausforderungen gemeistert?

  • Wann führen Fehler zur Unwirksamkeit von Betriebsratsbeschlüssen?

Ungeachtet dieser Fragen - zu denen wir kurzfristig eine Einschätzung und Empfehlung für die betriebliche Praxis veröffentlichen - sind § 129 BetrVG und seine Entsprechungen im SprAuG, EBRG, SEBG und SCEBG definitiv ein Schritt in die richtige Richtung. Wie häufig bei „Notfall-Gesetzen“ wirkt die Regelung zwar nicht in allen Punkten schlussdurchdacht. Infolge des gesetzgeberischen Bemühens, die Corona-bedingten Eingriffe so gering wie möglich zu halten, sind zudem einige für die betriebliche Praxis wichtige Themen auf der Strecke geblieben. Dies gilt insbesondere für Regelungen zur Wahl von Arbeitnehmervertretungen.

Dennoch bestehen für die betriebliche Praxis ab Inkrafttreten des neuen § 129 BetrVG sinnvolle Handlungsoptionen. Die Betriebsparteien sollten die Zeit bis zum 31.12.2020 vorausschauend auch dazu nutzen, Standards zu testen und zu etablieren, um die digitale Zusammenarbeit zu verbessern und zukunftsfähig auszurichten. Denn es ist eine zurzeit verbreitete Lebenserfahrung, dass technisch kurzfristig viele Optionen ermöglicht sind, die bislang in weiter Ferne schienen.

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