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EU-Kommission stellt Strategie für den digitalen Binnen­markt vor

21.05.2015

Der Vizepräsident der EU-Kommission Andrus Ansip und der für die digitale Agenda zuständige Günther Oettinger haben Anfang Mai 2015 die lang erwarteten Pläne der EU-Kommission zur Umsetzung eines einheitlichen digitalen europäischen Marktes vorgestellt. Um regulierungsbedingte Barrieren zu beseitigen und endlich die 28 nationalen Märkte zu einem einzigen zusammenzuführen, hat die EU-Kommission drei Säulen entwickelt, auf denen die „Digital Single Market Strategie“ beruht:

  1. Besserer grenzüberschreitender Zugang für Verbraucher und Unternehmen zu digitalen Waren und Dienstleistungen
  2. Schaffung von Rahmenbedingungen für zukunftsweisende digitale Netzwerke und Angebote
  3. Maximierung des Wachstumspotentials der europäischen digitalen Wirtschaft und Gesellschaft.

Zur Konkretisierung der drei Säulen sieht die Digitalstrategie 16 Initiativen vor, mit deren Hilfe das Ziel eines einheitlichen digitalen europäischen Marktes erreicht werden soll und die die Kommission bis Ende 2016 umsetzen wird. Von diesem breiten, mehrere Rechtsgebiete übergreifenden (u.a. Kartell-, Urheber,- Datenschutz, Transport-, Telemedien-, Steuerrecht) Ansatz verspricht sich die EU Kommission nicht nur eine Steigerung der Wirtschaftsleistung und die Schaffung zahlreicher neuer Arbeitsplätze, sondern auch die Sicherung der Konkurrenzfähigkeit Europas in einer digitalen Welt. Im Folgenden werden einige Schwerpunkte der Digitalstrategie vorgestellt:  

I. Besserer grenzüberschreitender Zugang für Verbraucher und Unternehmen zu digitalen Waren und Dienstleistungen

1. Online-Handel

Laut EU-Kommission fühlen sich lediglich 38% der Verbraucher beim Online-Shopping bei einem ausländischen europäischen Anbieter wohl und nur 15% kaufen tatsächlich in einem anderen EU-Mitgliedsstaat online ein. Die Verbraucher könnten insgesamt bis zu EUR 11,7 Milliarden sparen, wenn sie auf das europaweite Onlineangebot zurückgreifen würden. Kleinere und mittlere Betriebe scheuen die hohe Zusatzkosten, die bei der Anpassung des Angebots an die jeweilige Rechtslage eines Mitgliedsstaats anfallen. Daher will die EU-Kommission noch in diesem Jahr „einen geänderten Rechtsetzungsvorschlag“ zum Europäischen Kaufrecht bezüglich des Online-Kaufs von Sachgütern und digitalen Inhalten vorlegen. Unter anderem sollen sich Anbieter auf ihr innerstaatliches Recht berufen können, wenn sie einen „verbindlichen Sockel“ wesentlicher vertragsrechtlicher EU-Bestimmungen für den innerstaatlichen und grenzüberschreitenden Online-Handel beachten. Aus (international-) privatrechtlicher Sicht bemerkenswert ist die hier offenbar vollzogene Kehrtwende der EU Kommission weg vom vielfach kritisierten „fakultativen“ Gemeinsamen Europäischen Kaufrecht hin zum erneuten Versuch einer (weiteren) Harmonisierung der materiellen Verbraucherrechte. Eine damit verbundene Rückkehr zu den Grundprinzipien des Europarechts und des IPR (Mindestharmonisierung / Herkunftslandprinzip; Prinzip der engsten Verbindung / Rechtswahlfreiheit) auch im Verbrauchervertragsrecht wäre sehr zu begrüßen. Derzeit setzt sich hier – zumindest auf Rüge des Verbrauchers – im Zweifel das jeweilige lokale Verbraucherrecht gegenüber dem im Vertrag gewählten Recht durch, was den grenzüberschreitenden E-Commerce gerade für KMU erheblich erschwert.

Darüber hinaus wird die EU Kommission bis zum Ende des Jahres 2016 die Verordnung für die Zusammenarbeit im Verbraucherschutz (VO EG Nr. 2006/2004) überarbeiten. Ziel ist es, zum einen die Befugnisse der zuständigen Behörden klarer zu fassen und auszugestalten und zum anderen die Marktaufsicht und die Warnmechanismen besser zu koordinieren, um Verstöße schneller aufdecken zu können.

Da hohe Lieferkosten und Ineffizienz nach Auffassung der EU Kommission den grenzüberschreitenden Online-Handel behindern, möchte die EU Kommission außerdem im ersten Halbjahr 2016 Maßnahmen zur Verbesserung der Preistransparenz und zur regulatorischen Aufsicht über die Paketzustellung auf den Weg bringen.

Weiterhin plant die Kommission eine weitere Anpassung der unterschiedlichen Mehrwertsteuer-Systeme in den EU Mitgliedstaaten, um den Verwaltungsaufwand für Online-Händler zu verringern, die Waren grenzüberschreitend anbieten wollen. Entsprechende Rechtsetzungsvorschläge sollen im Jahr 2016 vorgelegt werden.

2. Verhinderung von Geo-Blocking

Ein Schwerpunkt der Digitalstrategie ist die weitgehende Vermeidung von sogenanntem Geo-Blocking. Diese meist aus wirtschaftlichen Gründen genutzte Technologie verweigert Internet-Nutzern den Zugriff auf eine Website aufgrund ihrer Herkunft. Die Gestaltungsvarianten solcher virtuellen Grenzen reichen von der Weiterleitung des Internet-Nutzers zur nationalen Anbieterseite in seinem Land bis hin zur gänzlichen Zugriffsverweigerung. Durch Geo-Blocking wird der einheitliche europäische Markt in einzelne Märkte entlang nationaler Grenzen unterteilt. Um ungerechtfertigtes Geo-Blocking zu verhindern, wird die EU-Kommission in der ersten Hälfte des Jahres 2016 einen Regelungsentwurf vorlegen. In Betracht gezogen wird hierfür eine Änderung der E-Commerce-Richtlinie sowie der Dienstleistungsrichtlinie. Die EU-Kommission weist jedoch bereits im jetzigen Strategiepapier darauf hin, dass Geo-Blocking gerechtfertigt sein kann, wenn zum Beispiel spezifisches nationales Recht (z.B. ein Tabakwerbeverbot) eingehalten werden muss. Weiterhin setzen viele Online-Händler bestimmte Formen des Geo-Blockings in gerechtfertigter Weise ein, etwa um bei Lieferungen an Verbraucher mit gewöhnlichem Aufenthalt im Ausland nicht unerwartet dem lokalen Verbraucherschutzrecht zu unterliegen.

Die Fragen rund um Geo-Blocking stehen in engem Zusammenhang mit der von der Kommission angestrebten Modernisierung des europäischen Urheberrechts (hierzu näher unter Ziffer 3). Die Lizenzierung der Verwertungsrechte zur Onlineverbreitung von Filmen, Videos und sonstigen audiovisuellen Inhalten soll vereinfacht werden. Bislang sind lediglich 4% aller Inhalte im Bereich Video-on-Demand (VoD) innerhalb der EU grenzüberschreitend abrufbar. Die Finanzierung des Mediensektors erfolgt über einen länderspezifischen selektiven Vertrieb, der an territoriale Lizenzen gebunden ist. Im Fact Sheet zum Strukturpapier stellt die EU-Kommission klar, dass dieses Geschäftsmodell an sich nicht als ungerechtfertigtes Geo-Blocking gewertet werden kann. Vizepräsident Ansip hat in diesem Punkt einem Formelkompromiss zugestimmt, wonach zwar das unberechtigte Geo-Blocking verboten werden, jedoch ein berechtigtes Geo-Blocking erlaubt bleiben soll. Die Abgrenzung zwischen beiden Bereichen wird sich möglicherweise nach entsprechenden Interessenlagen richten. Dabei sollte die EU-Kommission den Wert der Rechte der audiovisuellen Branche respektieren.

Auf Nachfrage eines Mitglieds des Europäischen Parlaments, ob die geplante Reform des Urheberrechts Einfluss auf den Ablauf des Vertriebs von Filmen haben werde, betonte Vizepräsident Ansip, dass das bisherige System der „release windows“ nicht geändert werden solle. Er führte aus, dass Filme zuerst in den Kinos, dann auf DVD veröffentlicht werden sollten, aber wenn es zur Auswertung über Video-on-Demand komme, grenzüberschreitender Zugang zu den Inhalten möglich sein sollte.

Inwieweit das Territorialitätsprinzip des Urheberrechts, das auch von Vizepräsident Andrus Ansip nicht grundsätzlich in Frage gestellt wird, und die daran an-knüpfenden nationalen Lizenzen mit der gewünschten weitgehenden Abschaffung des Geo-Blockings in Einklang gebracht werden können, bleibt jedoch fraglich. Das Strategiepapier liefert hierzu keine Antworten.

3. Kartellrechtliche Untersuchung im E-Commerce-Sektor

Als flankierende Maßnahme zur Digitalstrategie leitete die EU Kommission bereits am 06.05.2015 eine kartellrechtliche Sektoruntersuchung des Online-Handels ein. Ziel der Untersuchung ist es, wettbewerbsrechtliche Probleme im grenzüberschreitenden Online-Handel zu analysieren. Im Fokus dieser Untersuchung stehen der Online-Handel u.a. mit Elektronik, Bekleidung, Schuhen und digitalen Inhalten. Die Kommission wird innerhalb der kommenden Wochen Fragebögen an Hersteller, Groß- und Einzelhändler sowie Anbieter von Preisvergleichswebseiten und digitalen Marktplätzen verschicken. Die Sektoruntersuchung soll im ersten Quartal 2017 abgeschlossen werden. Ähnliche Maßnahmen haben in der Vergangenheit dazu geführt, dass kartellrechtliche Verfahren gegen individuelle Unternehmen eingeleitet wurden, so zum Beispiel die Untersuchung im Arzneimittelbereich in den Jahren 2008 und 2009. Mehr zur Untersuchung der EU-Kommission im E-Commerce-Sektor können Sie hier erfahren.

4. Modernes europäisches Urheberrecht

Die EU-Kommission will den Zugang zu digitalen Inhalten durch ein moderneres europäisches Urheberrecht verbessern. Die bisherigen Regelungen stammen aus dem Jahr 2001 und sollen nun an neue Technologien, verändertes Verbraucherverhalten und die aktuellen Marktgegebenheiten angepasst werden. Neben dem bereits aufgezeigten Geo-Blocking von VoD und anderen Online-Inhalten missfällt der EU-Kommission, dass die derzeitig bestehenden Ausnahmeregelungen des Urheberrechts im Rahmen von Forschung, Bildung und Text und Data Mining Rechtsunsicherheiten hervorrufen und so den grenzüberschreitenden Fortschritt behindern.

Als wesentlichen Punkt für ein innovations- und investitionsförderndes Umfeld nennt die Digitalstrategie ein effektives und ausbalanciertes zivilrechtliches Durchsetzungssystem gegen gewerbliche Urheberrechtsverletzungen. In diesem Zusammenhang wird auch die Rolle der Intermediäre wie Suchmaschinen neu betrachtet, um ihrer immer intensiveren Einbindung in die Verbreitung der Inhalte gerecht zu werden.

Zudem wird die Satelliten- und Kabelrichtlinie (RL 93/83/EWG) überprüft und überarbeitet, die künftig auch die Online-Übertragung der Rundfunkanstalten erfassen soll. Weitere, bislang nicht näher ausgeführte Maßnahmen der EU-Kommission sollen den grenzüberschreitenden Zugriff auf Rundfunkdienste im Binnenmarkt fördern.

Den Entwurf der Urheberrechtreform will die EU-Kommission noch vor Ende dieses Jahres präsentieren. 

II. Rahmenbedingungen für zukunftsweisende digitale Netzwerke und Angebote

1. Reform der EU-Telekommunikationsvorschriften

Auf der Agenda der EU-Kommission für dieses Jahr steht bereits das Telecoms Single Market Paket, das u.a. Netzneutralität und Roaming-Kosten in Angriff nimmt. Die Digitalstrategie sieht für das Jahr 2016 weitere Vorschläge zur Herstellung eines einheitlichen Binnenmarkts im Bereich der Telekommunikation vor. So soll die Vergabe der Funkfrequenzen harmonisiert und die Teilung in isolierte Märkte aufgrund regulatorischer nationaler Anforderungen beseitigt werden. Zudem sollen Anreize für den Ausbau der Netzwerke geschaffen werden, damit die Endverbraucher von bezahlbaren, wettbewerbsfähigen High-Speed-Breitbandanschlüssen (auch im ländlichen Gebiet) profitieren.

Ziel der Maßnahmen sind u.a. gleiche Bedingungen (level playing field) für alle Anbieter von Kommunikationsdiensten (d.h., traditionelle Telekommunikationsunternehmen und konkurrierende Online-Dienste), die eine Überarbeitung der Universaldienstrichtlinie mit sich bringen und von einer effektiveren staatlichen Regulierung begleitet werden.

2. Rahmenbedingungen für Medien im 21. Jahrhundert

Die EU-Kommission beabsichtigt zu untersuchen, ob die Regelungen der Richtlinie für Audiovisuelle Mediendienste (RL 2010/13/EU, AVMD-RL) den schnellen technologischen Entwicklungen und den damit einhergehenden Vertriebsmodellen gerecht werden. Bisher erfasst die AVMD-RL, deren Umsetzung durch den Rundfunkstaatsvertrag erfolgte, klassische Rundfunkangebote und andere fernsehähnliche VoD-Angebote. Zudem sind Maßnahmen zur Förderung europäischer Werke auf VoD-Plattformen geplant.

3. Online-Plattformen

Noch im Jahr 2015 will die EU Kommission die Rolle von Online-Plattformen umfassend analysieren. Neben Suchmaschinen wie z.B. Google – dessen marktbeherrschende Stellung die EU Kommission bereits seit dem Jahr 2010 aus kartellrechtlicher Sicht untersucht – sollen damit auch soziale Netzwerke, E-Commerce Plattformen, App-Stores und Preisvergleichs-Webseiten sowie Plattformen der „Sharing Economy“ (z.B. Uber, AirBnB) näher untersucht werden. Im Fokus der Untersuchung stehen unter anderem die zunehmende Marktmacht einiger Plattformen, mangelnde Transparenz sowie der Umgang mit den von diesen Plattformen gesammelten Daten. Diese Maßnahmen stehen in engem Zusammenhang mit den oben unter I. 3. beschriebenen kartellrechtlichen Sektoruntersuchung.

4. Cyberkriminalität und Datenschutz

In der ersten Jahreshälfte 2016 wird die Kommission eine Public-Private-Partnership (PPP) initiieren, mit der das Vertrauen in die Cybersicherheit gestärkt werden soll. Zudem wird die Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikationsdienste (RL 2002/58/EG) überarbeitet, um ein hohes Datenschutzniveau und gleiche Wettbewerbsbedingungen für alle Anbieter zu schaffen.  

III. Maximierung des Wachstumspotentials der europäischen digitalen Wirtschaft und Gesellschaft

Um das Potential von Cloud Computing, Big Data und dem Internet der Dinge voll ausnutzen zu können, will die EU-Kommission technische und gesetzliche Barrieren abbauen. Insbesondere Beschränkungen des Datenflusses innerhalb der Europäischen Union will sie mit einer Initiative im Jahr 2016 begegnen.
Zudem werden technische Standards und die Kompatibilität verschiedener Systeme vorangetrieben, um die Wettbewerbsfähigkeit der Europäischen Union durch die Entwicklung neuer Technologien wie 5G und die Digitalisierung der Industrie (Industrie 4.0) aufrechtzuerhalten.  

IV. Fazit

Die EU-Kommissare Ansip und Oettinger gehen die Digitalstrategie ambitioniert an. Bis Ende nächsten Jahres wollen sie neun Legislativvorschläge vorlegen. Die meisten hiervon haben das Potenzial, den grenzüberschreitenden Online-Handel innerhalb der Europäischen Union zu vereinfachen und sind wichtige Schritte, um einen Innovationsschub in der europäischen digitalen Wirtschaft zu fördern. Bis zur konkreten Umsetzung der einzelnen Säulen der Digitalstrategie müssen wir uns aber wohl noch ein wenig gedulden. Die Europäische Kommission macht „nur“ Gesetzesvorschläge, doch diese werden in der Regel nicht so angenommen, wie sie vorgelegt worden sind. Die Mitgliedstaaten und das Europäische Parlament werden bei der Umsetzung auch noch ein Wörtchen mitreden.

Jedenfalls werden die vorgestellten bzw. teilweise bereits eingeleiteten Maßnahmen erhebliche Auswirkungen auf Unternehmen in zahlreichen Wirtschaftszweigen haben. Deshalb empfiehlt es sich, die weiteren Entwicklungen genau im Auge zu behalten.

 

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