Gun-Jumping: Ein Frühstart mit ungeahnten Konsequenzen? Eine Übersicht der wichtigsten aktuellen Entwicklungen.
18.01.2019
Die Wettbewerbsbehörden der EU-Mitgliedsstaaten sowie die Europäische Kommission („Kommission“) haben in jüngster Zeit verstärkt Verfahren im Zusammenhang mit dem sog. „Gun-Jumping“ durchgeführt. Der Begriff, der aus der Leichtathletik als Frühstart eines Läufers bekannt ist, betrifft im Rahmen der Fusionskontrolle den Verstoß gegen das sog. Vollzugverbot – der gravierende Konsequenzen haben kann.
Welche Risiken ergeben sich bei Transaktionen?
Das Vollzugsverbot findet seine rechtliche Verankerung sowohl in der europäischen Fusionskontrolle in Art. 7 der Verordnung Nr. 139/2004 („FKVO“) als auch in der deutschen Fusionskontrolle in § 41 Abs. 1 GWB. Es verbietet den Unternehmen, die an einem anmeldepflichtigen Zusammenschlussvorhaben beteiligt sind, dieses zu vollziehen, bevor es die Kommission bzw. das Bundeskartellamt nach Anmeldung und Prüfung freigegeben haben. Damit soll der Entstehung potentiell wettbewerbsschädlicher Marktstrukturen vorgebeugt werden, da sich deren nachträgliche Auflösung als schwierig darstellen kann. Ein Verstoß gegen das Vollzugsverbot kann für Unternehmen weitreichende Folgen nach sich ziehen. Zum einen sind zunächst die Rechtsgeschäfte, die gegen das Vollzugsverbot verstoßen, unwirksam. Zum anderen stellt ein solcher Verstoß jedoch auch einen Bußgeldtatbestand dar, der mit bis zu 10 % des Gesamtumsatzes des jeweils betroffenen Unternehmens geahndet werden kann.
Dass die Wettbewerbsbehörden solche Verstöße immer ernster nehmen, hat die Kommission mit ihrer Entscheidung gegen das multinationale Kabel- und Telekommunikationsunternehmen Altice (Niederlande) erneut bewiesen. Wegen eines aus Sicht der Kommission vorliegenden Verstoßes gegen das Vollzugsverbot verhängte sie eine Rekordgeldbuße in Höhe von EUR 124,5 Mio. (siehe dazu bereits unseren Beitrag vom 03.08.2018).
Wo verläuft die Grenzlinie?
Während eine Vollzugshandlung bei der Übereignung der erworbenen Anteile oder bei der Übernahme der Geschäftsführung auf der Hand liegt, kann die Beurteilung bei anderen Maßnahmen im Vorfeld der Freigabe durch die Wettbewerbsbehörden im Einzelfall große Schwierigkeiten bereiten. Die Abgrenzung zwischen zulässigen Vorbereitungshandlungen und verbotenem Gun-Jumping ist jedenfalls in der Rechtsprechung der Gerichte und der Entscheidungspraxis der Behörden alles andere als eindeutig – dies gilt sowohl für die europäische als auch für die nationale Ebene. Für Unternehmen stellt sich daher im Rahmen von Transaktionen regelmäßig die Frage nach der genauen Reichweite des Vollzugsverbotes. Insbesondere vor dem Hintergrund der möglicherweise gravierenden Bußgeldverhängung ist es aus Sicht der betroffenen Unternehmen entscheidend, in dieser Grauzone nicht in das Visier der Wettbewerbsbehörden zu geraten.
Die europäische Ebene: Neue Hinweise, dennoch keine Klarheit
Der Europäische Gerichtshof („EuGH“) befasste sich in Sachen Ernst Young/KPMG (EuGH, Urteil vom 31.05.2018, Rs. C-633/16 – Ernst & Young) im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens mit dem Zusammenschlussvorhaben zwischen den Wirtschaftsprüfungsgesellschaften Ernst & Young („EY“) und KPMG Denmark („KPMG DK“). KPMG DK kündigte anlässlich der Transaktion – aber noch vor deren Freigabe – an, ihren Kooperationsvertrag mit KPMG International zu beenden. Darin sah die dänische Wettbewerbs- und Verbraucherbehörde („DCCA“) bereits einen Verstoß gegen das Vollzugsverbot. Die DCCA stützte ihre Entscheidung auf eine Gesamtbeurteilung der tatsächlichen Umstände, wonach die Kündigung des Kooperationsvertrages mit dem Zusammenschluss in einem engen Zusammenhang stehe, unumkehrbar sei und sich in dem Zeitraum zwischen der Kündigung und der Genehmigung des Zusammenschlusses auf den Markt habe auswirken können.
Der EuGH hingegen gelangte im Rahmen der Auslegung des Art. 7 FKVO zu dem Ergebnis, dass ein Zusammenschluss nur durch einen Vorgang vollzogen wird, der ganz oder teilweise, tatsächlich oder rechtlich zu einer Veränderung der Kontrolle („change of control“) über das Zielunternehmen beiträgt. Bezüglich EY und KPMG DK sah der EuGH dieses Kriterium – in Übereinstimmung mit den Schlussanträgen des Generalanwaltes Wahl – als nicht erfüllt an. Er bewertete die Kündigung des Kooperationsvertrages daher nicht als „Gun-Jumping“. Der EuGH vertrat vielmehr die Auffassung, dass die Kündigung den Zusammenschluss begleitet und vorbereitet haben mag, jedoch habe sie als solche nicht zu einer dauerhaften Veränderung der Kontrolle über das Zielunternehmen beigetragen.
Dies hat nun auch kürzlich das dänische Gericht, das dem EuGH die Frage zur Reichweite des Vollzugsverbotes vorgelegt hatte, bestätigt und die Entscheidung der dänischen Wettbewerbsbehörde aufgehoben.
Anders gelagert war hingegen der Fall Altice, mit dem sich die Kommission befasste: Der fragliche Übernahmevertrag sah Regelungen vor, die Altice das Recht zur Ausübung eines bestimmenden Einflusses über PT Portugal gaben, wie beispielsweise Vetorechte gegen Entscheidungen im Rahmen der normalen Geschäftstätigkeit von PT Portugal. Nach dem weiten Verständnis der Kommission ist die bloße Möglichkeit, beherrschenden Einfluss auszuüben, bereits ausreichend, um einen Verstoß gegen das Vollzugsverbot annehmen zu können. Nicht erforderlich sei, dass von dieser Möglichkeit auch tatsächlich Gebrauch gemacht worden ist. Darüber hinaus stellte die Kommission fest, dass Altice in bestimmten Fällen die Möglichkeit, bestimmenden Einfluss über bestimmte Teile der Geschäftstätigkeit von PT Portugal auszuüben, auch tatsächlich wahrgenommen habe. Dies sei beispielsweise durch Anweisungen an PT Portugal zur Durchführung einer Werbekampagne und durch den angeforderten Austausch detaillierter sensibler Geschäftsinformationen ohne jegliche Vertraulichkeitsvereinbarung geschehen.
Die Kommission erkannte zwar das Bedürfnis von Regelungen in Übernahmeverträgen, die den Erhalt des Wertes der Zielgesellschaft und somit den Zweck der Transaktion sicherstellen sollen, grundsätzlich an. Allerdings seien solche Klauseln klar auf das notwendige Maß zur Vermeidung der Gefährdung des Unternehmenswertes zu beschränken. Ein darüberhinausgehender Regelungsgehalt, der insbesondere auch in das Alltagsgeschäft der Zielgesellschaft eingreift (sog. (Ordinary) Conduct of Business-Klauseln), ist folglich unverhältnismäßig.
Gegen die Entscheidung der Kommission hat Altice nun jüngst Rechtsmittel eingelegt. Die Klage wird u. a. auf die Begründung gestützt, dass der Vollzug eines Zusammenschlusses mehr verlange als die bloße Möglichkeit, auf ein Unternehmen bestimmenden Einfluss auszuüben. Zudem wehrt sich Altice gegen die Feststellung der Kommission, tatsächlich bestimmenden Einfluss auf PT Portugal ausgeübt zu haben.
Insofern ist der Umfang des Vollzugsverbotes auf europäischer Ebene nach wie vor nicht abschließend geklärt, sodass die Entscheidung des Europäischen Gerichts („EuG“) in Sachen Altice mit Spannung erwartet wird.
Die mitgliedstaatliche Ebene: Ein weites Verständnis des Vollzugsverbotes
Auch auf nationaler Ebene ergeben sich für Unternehmen im Rahmen von Zusammenschlussvorhaben Unwägbarkeiten. So wird das Vollzugsverbot in den einzelnen Mitgliedsstaaten teilweise deutlich weiter verstanden als auf europäischer Ebene.
In Sachen Edeka/Kaiser‘s-Tengelmann (BGH, Beschluss vom 14.11.2017, KVR 57/16) vertrat der Bundesgerichtshof („BGH“) die Ansicht, dass ein Verstoß gegen das Vollzugsverbot nicht zwingend erfordert, dass der Erwerber Kontrolle über das Zielunternehmen oder wettbewerblich erheblichen Einfluss auf dieses erlangt. Ausreichend sei vielmehr bereits, dass der Erwerber bereits vorab Befugnisse erhält, die er nach dem beabsichtigten Zusammenschluss nur kraft seiner Position als Inhaber der Geschäftsanteile und Gesellschafterrechte ausüben könnte.
Auch bei Transaktionen mit Frankreichbezug ist ein strengerer Maßstab in Bezug auf das Vollzugsverbot durch die Autorité de la concurrence („AC“) zu beachten. So hat die AC eine Geldbuße in Höhe von EUR 80 Mio., ebenfalls gegen die Altice Gruppe, verhängt. Sie sah bereits die Vorbereitung und Planung eines neuen Internetangebotes sowie die gemeinsame Einkaufsplanung und Angebotseinholung als unzulässig an, obwohl die effektive Umsetzung dieser Aktivitäten auf dem Markt erst nach Freigabe erfolgte. Diese Maßnahmen reichten laut der AC bereits aus, um erheblichen Einfluss auf die Zielgesellschaft auszuüben und einen Austausch wettbewerbssensibler Informationen zu ermöglichen.
Somit bleibt festzuhalten, dass in den Mitgliedsstaaten im Hinblick auf Gun-Jumping-Maßnahmen teilweise ein strengerer Maßstab als auf europäischer Ebene angelegt wird.
Fazit
Für Unternehmen stellt sich somit insbesondere im Rahmen von grenzüberschreitenden Transaktionen die Frage, wie künftig in der Praxis mit der unklaren Reichweite sowie der Diskrepanz zwischen nationaler und europäischer Ebene umgegangen werden sollte. Eine Beurteilung, welche Maßnahmen noch als zulässige Vorbereitungshandlungen anzusehen sind und welche nicht, wird angesichts der derzeitigen Abgrenzungsproblematik nur unter Berücksichtigung aller Umstände des jeweiligen Einzelfalles möglich sein und bedarf einer sorgfältigen Analyse.
Haben Sie Fragen? Kontaktieren Sie gerne: Sarah Blazek und Patrick Kalina
Practice Groups: Kartellrecht, Regulierung & Governmental Affairs