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Kartellrecht in der M&A-Praxis reloaded: EuG bestätigt Rekord-Geldbuße wegen Gun-Jumping

05.11.2021

Das Gericht der Europäischen Union („EuG“) hat die bis dato höchste Bußgeldentscheidung wegen „Gun-Jumping“ innerhalb des EWR bestätigt (Urteil in der Rs. T-425/18 – Altice Europe / Kommission). Die Europäische Kommission („Kommission“) hatte das multinationale Telekommunikationsunternehmen Altice Europe NV („Altice“) im Jahr 2018 sowohl wegen eines Verstoßes gegen die Anmeldepflicht als auch gegen das Vollzugsverbot mit einem Rekord-Bußgeld von EUR 124,5 Mio. sanktioniert. Das EuG wies die Nichtigkeitsklage von Altice ab, bestätigte die Feststellungen der Kommission und korrigierte lediglich die Bußgeldhöhe um 10 %. Dem EuG zufolge steht dem auch nicht das Verbot der Doppelbestrafung entgegen.

Hintergrund

Die Fusionskontrollverordnung („FKVO“) sieht vor, dass Zusammenschlüsse bei der Kommission angemeldet werden müssen, wenn sie von unionsweiter Bedeutung sind und die dafür vorgesehenen Schwellenwerte erfüllen (sog. Anmeldepflicht i. S. d. Art. 4 Abs. 1 der FKVO). Überdies dürfen die Unternehmen den Zusammenschluss bis zur Freigabeentscheidung der Kommission nicht vollziehen (sog. Vollzugsverbot i. S .d. Art. 7 Abs. 1 der FKVO). Das EuG hat in seiner Entscheidung klargestellt, dass beide Vorschriften parallel zur Anwendung zu bringen sind und dass es für die Geldbuße einen Unterschied machen kann, ob ein Unternehmen zwar die Anmeldepflicht einhält, aber gegen die Stillhaltepflicht verstößt oder sogar gegen beide Pflichten (wie im vorliegenden Fall durch Altice).

Gun-Jumping betrifft – in Anlehnung an den Frühstart von Läufern in der Leichtathletik – einen vorzeitigen Vollzug von anmeldepflichtigen Zusammenschlussvorhaben, d. h. bildlich gesprochen, bevor der Startschuss von der zuständigen Wettbewerbsbehörde (die Freigabe nach Anmeldung) gefallen ist. Klassischerweise betrifft Gun-Jumping Konstellationen, die den Vollzug als solchen vorwegnehmen, wie z. B. die Übertragung von Unternehmensanteilen oder der Erwerb der Kontrolle. In seiner die Kommission stützenden Entscheidung macht das EuG mit Nachdruck deutlich, dass unter Umständen auch der unzulässige Informationsaustausch und bloße Vorbereitungshandlungen, wie die Möglichkeit, bestimmenden Einfluss auf das Zielunternehmen auszuüben, als Verstoß gegen das Vollzugsverbot gewertet werden können. Diese weite Interpretation birgt Risiken für Transaktionen.

Die Altice-Entscheidung der Kommission

Über einen im Dezember 2014 abgeschlossenen Aktienkaufvertrag („SPA“) sollte Altice die alleinige Kontrolle über PT Portugal erwerben. Das SPA sah bis zur Genehmigung der Wettbewerbsbehörde für Altice bestimmte Einflussnahme- und Vetorechte in Bezug auf eine Reihe von Betriebsentscheidungen bei PT Portugal vor.

Im Februar 2015 meldete Altice bei der Kommission den Erwerb der alleinigen Kontrolle über PT Portugal an. Mit Beschluss vom 20.04.2015 erklärte die Kommission den Erwerb zwar (vorbehaltlich der Einhaltung bestimmter Verpflichtungen) für mit dem Binnenmarkt vereinbar. Aufgrund der Presse entnommener Informationen leitete die Kommission allerdings dann im März 2016 wegen eines möglichen Verstoßes gegen die Bestimmungen der FKVO eine Untersuchung ein und stellte diesen auch fest.

Die Kommission sanktionierte Altice vor allem wegen der streitgegenständlichen Covenants (auch ordinary conduct of business-Klauseln) sowie aufgrund eines unzulässigen Informationsaustauschs.

Gun-Jumping durch Covenants

Ein besonderes Augenmerk verdient die Entscheidung zunächst mit Blick auf sog. Covenants. Vor dem Hintergrund des Investitionsrisikos auf Käuferseite gekoppelt mit der Schwebezeit zwischen Signing und Closing besteht in dieser Phase ein hohes Absicherungsinteresse. In Unternehmenskaufverträgen haben sich daher Klauseln in Gestalt von Konsultationsrechten, Veto-Rechten oder auch Zustimmungsvorbehalten in Bezug auf bestimmte Geschäftsvorgänge beim Zielunternehmen für die Phase bis zum Vollzug etabliert.

Zwar erkennt auch die Kommission das Bedürfnis nach Regelungen in Übernahmeverträgen, die den Erhalt des Unternehmens und dem Zweck der Transaktion sicherstellen sollen, grundsätzlich an. Was aber konkret mit der von der Entscheidungspraxis geforderten Beschränkung auf das notwendige Maß zur Vermeidung der Gefährdung des Unternehmenswertes noch erlaubt bzw. schon verboten ist, bleibt juristischer Graubereich. Dies gilt nicht zuletzt, weil die verschiedensten Vorgänge Einfluss auf den (nachhaltigen) Wert eines Unternehmens haben können.

Mit der Bestätigung der Altice-Entscheidung hat das EuG die Trennlinie zwischen erlaubten Werterhaltungsklauseln und unzulässiger kontrollierender Einflussnahme weiter präzisiert – jedenfalls in negativer Hinsicht. Das Gericht beanstandete drei Kategorien von Einflussnahme- bzw. Vetorechten, die es als zu weit gefasst und zum Schutz der legitimen Interessen von Altice als nicht erforderlich erachtete:

    • Ernennung und Abberufung von Führungskräften;

    • Gestaltung der Preispolitik und der Geschäftsbedingungen; sowie

    • Möglichkeit, verschiedene Verträge abzuschließen, zu beenden oder zu modifizieren, wobei verhältnismäßig niedrige monetäre Schwellenwerte vorgesehen waren.

Insbesondere in der Möglichkeit zur Mitbestimmung über die Struktur der Geschäftsleitung sieht das EuG die Möglichkeit, einen entscheidenden Einfluss auf die Geschäftspolitik eines Unternehmens auszuüben. Den in der Praxis häufig anzutreffenden Zustimmungsvorbehalten zur Bestellung von Geschäftsführern oder auch der Einflussnahme auf Personalgruppen dürfte damit jedenfalls ein Riegel vorgeschoben sein. Vielmehr sollte im Einzelfall beurteilt werden, welcher Mitarbeiter wirklich für den Werterhalt des Unternehmens unabdingbar erscheint.

Was aus der Entscheidung konkret für etwaige Einflussmöglichkeiten in Bezug auf Verträge in anderen Konstellationen folgt, bleibt dagegen unklar. Das Urteil bietet auch keine verlässliche Grundlage für Käufer, wie etwa rechtssicher Schwellenwerte für Verträge gebildet werden, die in jedem Fall einem Zustimmungsvorbehalt unterfallen dürfen.

Gun-Jumping durch Informationsaustausch

Auch im Hinblick auf den Umgang mit dem Aspekt von Informationsaustausch zwischen Abschluss des Unternehmenskaufvertrags (Signing) und dessen Vollzug (Closing) lohnt ein Blick in die Entscheidung des EuG für die künftige Beratungspraxis.

Es wird deutlich, dass – anders als es sich nach der Entscheidung vom Gerichtshof der Europäischen Union („EuGH“) in Sachen Ernst & Young (EuGH, Urteil vom 31.05.2018, Rs. C‑633/16 – Ernst & Young) angedeutet hatte – der Austausch sensibler Informationen durchaus auch unter fusionskontrollrechtlichen Aspekten im Rahmen eines Vollzugsverbots zu prüfen ist.

Sowohl die Kommission als auch das EuG räumen ein, dass der Austausch von Informationen geschäftlicher Art zwischen einem potenziellen Erwerber und einem Verkäufer bei ordnungsgemäßer Durchführung als Teil des normalen Erwerbsvorgangs angesehen werden kann, wenn Art und Zweck dieses Austauschs in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Erfordernis des potenziellen Erwerbers stehen, den Wert des Unternehmens zu beurteilen. Dies verleiht Rechtssicherheit für Informationsaustausche im Rahmen einer Due Diligence vor Signing, die sich an diesen Kriterien orientieren.

Zurückhaltung ist aber im Zeitfenster nach dem Signing geboten, das von der Kommission und auch vom EuG besonders kritisch betrachtet wird. Denn die Grenze des Zulässigen ist nach der Auffassung des EuG dann überschritten, wenn der Informationsaustausch nach der Unterzeichnung des SPA fortgeführt wird und in wettbewerblicher Hinsicht sehr sensible Informationen ausgetauscht werden. Im konkreten Fall handelte es sich um den Austausch zu künftigen Preisstrategien sowie um wöchentliche Informationen zu den wichtigsten Leistungsindikatoren. Hierin sah das EuG die Ausübung bestimmenden Einflusses von Altice über PT Portugal, mithin einen Vorvollzug, welcher vor der Freigabe nicht hätte stattfinden dürfen.

Dadurch, dass der Informationsaustausch in Sachen Altice nur einen weiteren Beitrag des Verstoßes gegen das Vollzugsverbot darstellte, bleibt offen, ob Gun-Jumping auch allein durch einen Informationsaustausch begründet werden kann. Dies scheint jedenfalls für die Phase nach Signing nicht mehr ausgeschlossen.

Konsequenzen für die Praxis

Durch die vorgestellte Entscheidung des EuG rückt das Kartellrecht weiter in den Fokus von M&A-Transaktionen. Vor allem mit Blick auf den eindeutig erkennbaren Trend der Kommission, verschärft und systematisch Gun-Jumping-Verstöße zu verfolgen und zu ahnden, ist eine sorgfältige und frühzeitige kartellrechtliche Begleitung von M&A-Prozessen angezeigt.

Es zeigt sich, dass die Bedeutung der Fusionskontrollvorschriften weit über die Notwendigkeit von Anmeldepflichten hinausragt. Das Vollzugsverbot greift bereits dann, wenn der Erwerber durch den Kaufvertrag die Möglichkeit erhält, bereits einen bestimmenden Einfluss auf das Zielunternehmen auszuüben – also ggf. bereits ab Signing. Auch Informationsaustausch ist in diesem Kontext mit Risiken behaftet, da dieser nun auch im Lichte der europäischen Rechtsprechung Teil von Gun-Jumping sein kann. Die Grenzen des (Un-)Zulässigen verlaufen dabei teilweise fließend. Jedenfalls ist vor dem Hintergrund der Altice-Entscheidung immer dann besondere Vorsicht geboten, sobald es im Rahmen der Covenants um Einfallstore in die Bereiche Geschäftsführung, Preispolitik und Vertragsabschlüsse des Zielunternehmens geht.

In jedem Fall ist – mit Blick auf das Verständnis der Reichweite des Vollzugsverbots und die Anmerkungen im Urteil – bei SPAs auf enge Formulierungen zu achten, um nicht Gefahr zu laufen, über das hinauszugehen, was für die Werterhaltung eines Zielunternehmens erforderlich ist. Schon die bloße Möglichkeit der Einflussnahme in sensiblen Bereichen kann ausreichen, um einen Gun-Jumping-Verstoß zu begründen. Abwägungsentscheidungen werden daher auch in Zukunft am Einzelfall vorzunehmen sein und sollten entsprechend dokumentiert werden. Auch wenn das Urteil formal auf die EU-Fusionskotrolle beschränkt ist, erscheint es zudem nicht unwahrscheinlich, dass sich die nationalen Wettbewerbsbehörden an diesen Linien orientieren werden. 

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