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Keine neuen Spielregeln für den Überstundenprozess

25.05.2022

Die Frage, ob infolge der europäischen Arbeitszeitrichtlinie (RL 2003/88/EG) und des sog. „Stechuhr-Urteils“ des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) die Karten für die Beweislastverteilung im Überstundenprozess neu gemischt werden, ist in den vergangenen zwei Jahren heiß diskutiert worden. Mit seiner – mit Spannung erwarteten – Entscheidung vom 4. Mai 2022 (5 AZR 359/21) bleibt das Bundesarbeitsgericht (BAG) bei seiner bisherigen Rechtsprechung: Die Beweislast für Überstunden trägt grundsätzlich der Arbeitnehmer. Unternehmen können vorerst aufatmen, die befürchtete Klagewelle wird ausbleiben.

Klage auf Vergütung von Überstunden

Die Ausgangssituation hätte gewöhnlicher nicht sein können: Ein Prozess um die Abgeltung von Überstunden vor dem Arbeitsgericht Emden. Der Kläger war für die Beklagte fünf Jahre lang als Auslieferungsfahrer tätig. Dabei erfasste er seine Arbeitszeit mittels einer technischer Zeitaufzeichnung. Dieses System erfasste jeweils nur die Anfangs- und Endzeiten, zeichnete jedoch nicht die Pausenzeiten auf. Die Auswertung der Arbeitszeit bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses ergab einen positiven Saldo in Höhe von 348 Stunden zugunsten des Klägers. 2019 machte er klageweise die Abgeltung der Überstunden in Höhe von rund EUR 5.000 geltend. Er trug dazu pauschal vor, die gesamte Zeit gearbeitet zu haben, da Pausen aufgrund der vielen Auslieferungsaufträge grundsätzlich nicht möglich gewesen seien. Der Arbeitgeber bestritt dies und verweigerte die Zahlung unter anderem mit dem Hinweis, dass etliche Stunden für Essens- und Raucherpausen in Abzug gebracht werden müssten.

Bisherige Rechtsprechung

Seit 2013 war die Rechtsprechung vom BAG dazu zunächst eindeutig: Mehrarbeit wird nur dann vergütet, wenn der Arbeitgeber sie angeordnet, gebilligt oder zumindest geduldet hat. Dies muss der Arbeitnehmer im Zweifel darlegen und beweisen. Ein pauschaler Verweis ist dafür nicht ausreichend. Vielmehr muss der Mitarbeiter substantiiert zu jeder einzelnen Überstunde vortragen.

„Stechuhr-Urteil“ des EuGH

Was jahrelang gefestigte Rechtsprechung war, geriet mit dem EuGH-Urteil vom 19. Mai 2019 (C 55/18) auf den Prüfstand. In dem berühmten „Stechuhr-Urteil“ entschieden die Luxemburger Richter, dass zum Schutz der Arbeitnehmer die tatsächlich geleistete Arbeitszeit erfasst werden müsse. Dies ergebe sich aus der Auslegung und Anwendung der europäischen Arbeitszeitrichtlinie (RL 2003/88/EG). Die Mitgliedstaaten wurden vom EuGH aufgefordert, die Arbeitgeber zu verpflichten, ein „objektives verlässliches und zugängliches Arbeitszeiterfassungssystem“ einzuführen. Denn ein effektiver Schutz der Arbeitnehmer sei nur gewährleistet, wenn die tatsächlich geleistete Arbeitszeit erfasst und dokumentiert werde.

ArbG Emden entscheidet überraschend

Dies nahm das Arbeitsgericht Emden (Teilurteil v. 9. November 2020 – 2 Ca 399/18) zum Anlass für einen überraschenden Richtungswechsel. Zur Freude des Klägers vertrat es die Ansicht, dass aus der im EuGH-Urteil niedergelegten Pflicht zur Aufzeichnung und Kontrolle der Arbeitszeiten in Bezug auf die geltend gemachte Überstundenabgeltung eine Beweislastumkehr zulasten des Arbeitgebers folge. Denn die Nichterfassung von Arbeitszeit durch den Arbeitgeber stelle eine Beweisvereitelung dar. In der Konsequenz sprach das Arbeitsgericht dem Kläger die Überstundenvergütung zu. Ähnlich entschied das Emdener Arbeitsgericht auch in zwei weiteren Fällen.

Dem trat das Landesarbeitsgericht Niedersachsen (Urteil v. 6. Mai 2021 – 5 Sa 1292/20) allerdings bereits in der Berufungsinstanz entgegen. Das EuGH-Urteil treffe nur eine Aussage zur Pflicht zum Erfassen der Arbeitszeit. Die Abrechnung hingegen betreffe Fragen der Vergütung, so das LAG Niedersachen. Darüber hinaus binde das Urteil des EuGH nur die Mitgliedsstaaten als solche und nicht direkt den einzelnen Arbeitgeber.

BAG nimmt keine Rechtsprechungsänderung vor

Das BAG schloss sich der Auffassung des Landesarbeitsgerichts an. Damit bleibt es dabei: Überstunden müssen weiterhin vom Arbeitnehmer nachgewiesen werden. Zur Begründung führt das BAG in der bisher zu dem Urteil vom 4. Mai 2022 vorliegenden Pressemitteilung aus, dass der EuGH sich in seinem Urteil allein mit der Frage des Arbeitsschutzes und der effektiven Begrenzung der Höchstarbeitszeit für Arbeitnehmer befasse. Daher könne die europäische Arbeitszeitrichtlinie keine Auswirkungen auf das deutsche Prozessrecht haben. Hätte sich das BAG den Emdener Richtern angeschlossen, wäre eine große Prozesswelle in Bezug auf Überstundenabgeltung auf die Unternehmen zugerollt.

Fazit und Ausblick

Das Urteil des BAG bestätigt zur Erleichterung der Arbeitgeber die bisherige Rechtsprechung zur Darlegungs- und Beweislast im Prozess um Überstundenvergütung. Damit ist das Thema jedoch noch nicht erledigt. Denn die grundsätzlichen Vorgaben des EuGH zur Einführung einer Verpflichtung der Unternehmen zur vollständigen Erfassung von Arbeitszeiten bleiben bestehen. Der Spielball liegt aktuell beim deutschen Gesetzgeber. Mit einer Umsetzung der europäischen Vorgaben dürfte noch in dieser Legislaturperiode zu rechnen sein, sodass das anstehende Gesetzgebungsverfahren genau im Auge behalten werden sollte. Auf eine etwaige Einführung von Zeiterfassungssystemen sollten sich Arbeitgeber daher schon heute vorbereiten.

 

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