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„Maßgeschneiderte“ Mitbestimmung – Arbeitnehmer­beteiligung bei der SE-Gründung

21.09.2017

- Teil 2: Die Bildung des besonderen Verhandlungsgremiums (BVG) -  

Nicht nur jüngere Unternehmen aus dem E-Commerce-Bereich und (frühere) Start-Ups wie etwa Rocket Internet, Zalando und Windeln.de sondern auch traditionsreiche Unternehmen wie Bilfinger, BP Europe oder BASF haben sich in den vergangenen Jahren für die Rechtsform der Societas Europaea („SE“ – auch „Europäische Aktiengesellschaft“ genannt) entschieden. Die Gründe hierfür sind in der Regel vielfältig. So spielt neben der Flexibilität bei der Wahl der Board Struktur (in der SE kann auch eine monistische Struktur gewählt werden), dem die Internationalität des Unternehmens unterstreichenden Image der SE sowie der grenzüberschreitenden Mobilität (erleichterte Verlegung des Sitzes der SE) nicht zuletzt die Unternehmensmitbestimmung eine entscheidende Rolle bei der Wahl der Rechtsform SE. Denn im Mittelpunkt des Gründungsprozesses einer SE steht insbesondere auch ein Arbeitnehmerbeteiligungsverfahren, dessen Ziel es ist, im Wege freier Verhandlungen eine einvernehmliche Regelung zu erzielen, die im Interesse sowohl der Unternehmen als auch deren Arbeitnehmer liegen (sog. „Beteiligungsvereinbarung“). In diesem Sinne spricht auch die Gesetzesbegründung zum SEBG, dem deutschem Umsetzungsgesetz zur SE-Richtlinie (RL 2001/86/EG) von „maßgeschneiderten Arbeitnehmerstrukturen für die SE“.

Vertreten werden die Arbeitgeber in den Verhandlungen durch ein sog. „Besonderes Verhandlungsgremium“ („BVG“), zu dessen Bildung die Leitungsorgane der Gründungsgesellschaften die Arbeitnehmer bzw. deren Vertreter in der Regel gemeinsam mit der Information über das Gründungsvorhaben auffordern (siehe auch „Teil 1: Der Auftakt des Arbeitnehmerbeteiligungsverfahrens“). Die Bildung des BVG selbst ist dann Sache der Arbeitnehmer bzw. deren Vertreter. Dennoch wird die Bildung des BVG in der Regel (auch) im Interesse der Gründungsgesellschaften liegen, weshalb ein entsprechende Begleitung durch die Unternehmensleitungen und das damit verbundene Know How in der Regel hilfreich sind.

Wie wird das BVG gebildet?

Die deutschen Mitglieder des BVG werden von einem sog. Wahlgremium in geheimer und unmittelbarer Wahl gewählt. Das Wahlgremium setzt sich aus den Arbeitnehmervertretungen der beteiligten Gesellschaften zusammen. Als Grundsatz gilt dabei, dass die jeweils höchste Ebene der Arbeitnehmervertretung die unteren Ebenen und die Arbeitnehmer, die keine Arbeitnehmervertretung gebildet haben, vertritt (§ 8 Abs. 2 bis 5 SEBG). Ist beispielsweise ein Konzernbetriebsrat vorhanden, übernimmt ausschließlich er die Bildung des Wahlgremiums und repräsentiert alle Arbeitnehmer der Unternehmensgruppe in Deutschland (§ 8 Abs. 2 SEBG). Zu beachten ist dabei, dass diese Vertretungsfunktion auch in dem umgekehrten Fall besteht, dass nur in einem bzw. einzelnen Betrieben eines inländischen Konzerns Betriebsräte gewählt wurde (§ 8 Abs. 2 SEBG). Allein die Mitglieder dieses bzw. dieser Betriebsräte bilden dann das Wahlgremium und vertreten die gesamte Konzernbelegschaft. Dieses System ist nicht nur zeit-, sondern auch kostensparend.

Es wird nur dann durch eine sog. „Urwahl“ aller Arbeitnehmer ersetzt, wenn keinerlei Arbeitnehmervertretungen vorhanden sind (§ 8 Abs. 7 SEBG). Wie diese – unmittelbare und geheime –Urwahl durchzuführen ist, ist in § 8 Abs. 7 SEBG nur rudimentär geregelt. Sinnvollerweise wird man deshalb ergänzend die Regelungen zu Betriebsratswahlen aus dem BetrVG und der WahlO zum BetrVG entsprechend heranziehen müssen. Die Gesetzbegründung verweist insoweit (verklausuliert) lediglich auf die Wahlordnungen zum DrittelbG und MitbestG (BR-Dr 437/04, S. 119), die man daher ebenfalls berücksichtigen können wird.

Untätigkeit der Arbeitnehmer und Verzögerungen bei der Bildung des BVG

Was geschieht nun, wenn die Arbeitnehmer nicht oder nur verspätet tätig werden bzw. das BVG fehlerhaft bilden? Zu vermeiden gilt hier, dass die 6-monatige Frist, die § 20 Abs. 1 SEBG für (i) die Verhandlungen ab der Konstituierung des BVG bis zum Abschluss einer Beteiligungsvereinbarung bzw. (ii) für den Fall, dass eine Einigung in diesem Zeitraum nicht erzielt werden kann, dem Eingreifen der sog. gesetzlichen Auffanglösung setzt, nicht zu laufen beginnt. Denn der Ablauf dieser Frist ist für den Fall, dass eine Beteiligungsvereinbarung nicht bereits zu einem früheren Zeitraum abgeschlossen wird, Voraussetzung für die Eintragung der SE.

Die Arbeitnehmer haben für die Bildung des BVG gem. § 11 Abs. 1 SEBG 10 Wochen Zeit. Eine Verzögerung, die die Arbeitnehmer zu vertreten haben, geht dabei grds. zu ihren Lasten. Taktische Verzögerungsmöglichkeiten der Arbeitnehmer bestehen insoweit nicht. Denn auch bei unvollständiger Bildung des BVG können die Leitungen gem. §§ 11 Abs. 2, 20 SEBG zur konstituierenden Sitzung des BVG einladen und das Verhandlungsverfahren in Gang setzen, wenn vorher eine ordnungsgemäße Information stattgefunden hat – was aus Unternehmersicht deshalb unbedingt sicherzustellen und entsprechend zu dokumentieren ist (vgl. „Teil 1: Der Auftakt des Arbeitnehmerbeteiligungsverfahrens“). Die 6-monatige Verhandlungsfrist wird bei Verspätung oder Fehlern der Arbeitnehmer nicht verlängert. Mitglieder des BVG, die erst nach Beginn des Verhandlungsverfahrens gewählt oder bestellt werden, können sich zwar jeder Zeit an den Verhandlungen beteiligen, müssen aber den Stand der bisherigen Verhandlungen in Kauf nehmen und können nicht die Neuverhandlung bereits abgehandelter Verhandlungspunkte verlangen.

Umstritten ist demgegenüber, wie sich die Nichtbildung des BVG auf die Möglichkeit der Eintragung der SE auswirkt. Denn Startpunkt der 6-monatigen Verhandlungsfrist ist die konstituierende Sitzung des BVG. Wird das BVG nun gar nicht gebildet, kann diese Frist nicht in Gang gesetzt werden und eine Eintragung der SE ins Handelsregister wäre niemals möglich. Dieses Ergebnis kann offensichtlich nicht zutreffen. Im Gegenteil wird richtigerweise diskutiert, ob die Untätigkeit der Arbeitnehmer zu einer Beschleunigung der Eintragung führen kann. Dies wird teilweise mit unterschiedlicher Begründung bejaht:

  • Nach einer Ansicht steht das Nichtbilden des BVG dem erfolglosen Ablauf der Verhandlungsfrist gleich, sodass die SE bereits mit Ablauf der zur Bildung des BVG vorgegebenen 10-wöchigen Frist eingetragen werden kann, ohne die 6-monatige Verhandlungsfrist gem. § 20 Abs. 1 SEBG abwarten zu müssen.
  • Zu dem gleichen Ergebnis kommt mit abweichender Begründung eine andere Ansicht, die die Fälle der fehlenden Bildung mit einem Beschluss des BVG, keine Verhandlungen aufzunehmen, nach § 16 Abs. 1 SEBG gleichsetzt.

Bleiben Arbeitnehmer aus anderen Mitgliedsstaaten untätig und wählen keine Mitglieder des BVG, hat das keinen Einfluss auf das Verfahren in Deutschland. Das BVG beginnt das Verhandlungsverfahren in diesen Fällen ohne die Mitglieder aus den anderen Mitgliedsstaaten.

Wie ist das BVG zusammen gesetzt?

Die Zusammensetzung des BVG erfolgt in zwei Schritten:

(1) Zunächst werden die aus jedem Mitgliedsstaat zu besetzenden Sitze im BVG ermittelt (§ 5 SEBG). Entscheidend dafür ist die Anzahl der in den Mitgliedsstaaten beschäftigten Arbeitnehmer im Verhältnis zur Gesamtarbeitnehmerzahl aller beteiligten Gesellschaften:

  • Für jede angefangene 10 % an der Gesamtarbeitnehmerzahl erhält der Mitgliedsstaat einen Sitz, sodass das BVG immer aus mind. 10 Mitgliedern besteht und umso größer wird je mehr Arbeitnehmer in unterschiedlichen Mitgliedsstaaten beschäftigt sind.
  • Wird die SE durch Verschmelzung gegründet, besteht dazu die Besonderheit, dass so viele zusätzliche Mitglieder in das BVG zu wählen sind, dass jede beteiligte und durch die Verschmelzung untergehende Gesellschaft durch mind. ein Mitglied im BVG vertreten ist.
  • Insgesamt darf die Zahl der zusätzliche Mitglieder aber 20 % der "normalen" Mitgliederzahl nicht überschreiten.

Beispiel: Mitgliederzahl des BVB bei Gründung der SE durch Umwandlung

 Mitgliedsstaat  Arbeitnehmerzahl  Anteil Arbeitnehmer  aller Sitze
 Deutschland  54  40,6%  4
 Polen  46  34,6%  4
 Frankreich  33  24,8%  3
 Gesamt  133  100%  11

(2) Die Verteilung der so ermittelten Sitze innerhalb der inländischen Gesellschaften richtet sich nach den §§ 6 Abs. 3, 4; 7 SEBG:

 
  • Danach entfällt jeder dritte Platz im BVG auf ein Gewerkschaftsmitglied, der in einer der beteiligten Gesellschaften vertretenen Gewerkschaften, und
  • jeder siebte Platz auf einen leitenden Angestellten. Die restlichen Plätze werden auf die beteiligten Gesellschaften verteilt.
  • Dabei soll jede beteiligte Gesellschaft durch mindestens ein Mitglied im BVG vertreten sein.
  • Sind weniger Sitze zu vergeben als Gesellschaften beteiligt, werden die Sitze in absteigender Reihenfolge anhand der Anzahl der in den Gesellschaften beschäftigten Arbeitnehmer vergeben.
  • Sind dagegen mehr Sitze zu vergeben als Gesellschaften beteiligt sind, werden die "überschüssigen" Sitze nach dem sog. „d'Hondtschen Höchstzahlenverfahren“ verteilt. D.h. die jeweils auf die Kandidaten entfallenden Stimmen werden durch 1, 2, 3, usw. dividiert und die Sitze in der Reihenfolge der größten sich ergebenen Höchstzahlen zugeteilt.

Ermittlung von Gewerkschaftsvertretern

Nicht im SEGB definiert ist, wann eine Gewerkschaft in einem Unternehmen vertreten ist. Deshalb wird auch hier eine Parallele zum BetrVG gezogen. Danach ist eine Gewerkschaft in einem Unternehmen bereits dann vertreten, wenn nur ein Arbeitnehmer Mitglied der Gewerkschaft ist. Zu beachten ist dazu, dass im § 6 Abs. 3 SEBG nicht wie ansonsten von beteiligten „Gesellschaften“, sondern von beteiligten „Unternehmen“ gesprochen wird. Daraus wird teilweise geschlossen, dass auch die Gewerkschaften bei der Sitzverteilung beachtet werden müssen, die "nur" in einer betroffenen Tochtergesellschaft und nicht in einer an der Gründung beteiligten Gesellschaft vertreten sind. Eine Nachforschungspflicht der Leitungen besteht insoweit aber richtigerweise nicht („Teil 1: Der Auftakt des Arbeitnehmerbeteiligungsverfahrens“).

Was geschieht bei fehlerhafter Bildung des BVG?

Aufgrund der Komplexität der Regelungen zur Bildung des BVG kommt es – nicht selten dann, wenn das Verfahren nicht hinreichend durch die Leitungen begleitet wird – vereinzelt zu einer fehlerhaften Bildung des BVG. Deshalb stellt sich die Frage, ob die richtige Zusammensetzung des BVG gerichtlich überprüft werden kann und welche Folgen eine fehlerhafte Bildung auf die etwaig geschlossene Beteiligungsvereinbarung hat.

Für derartige Streitigkeiten sind die Arbeitsgerichte zuständig, die gem. § 82 Abs. 2 HS 2 ArbGG bereits vor der Eintragung der SE im Handelsregister angerufen werden können. Geschieht dies (im Wege eines einstweiligen Verfügungsverfahrens) im laufenden Verhandlungsverfahren, birgt auch dies die Gefahr einer Verzögerung der Eintragung der SE.

Die Eintragung der SE verhindern können wird eine fehlerhafte Bildung des BVG aber allenfalls dann – und auch das ist nicht abschließend geklärt –, wenn dies auch zur Unwirksamkeit der Beteiligungsvereinbarung führt.

  • Ob ein Fehler bei der Wahl des BVG zur Unwirksamkeit der zwischen den Leitungen und dem BVG geschlossenen Beteiligungsvereinbarung führt, hängt von der Schwere des Fehlers ab. Denn nur ein Fehler, der zur Nichtigkeit der Wahl an sich führt und somit den Mitgliedern des BVG rückwirkend ihre Legitimation entzieht, kann auch zur Unwirksamkeit der vom BVG geschlossenen Vereinbarungen führen.
  • Wann ein solcher Fehler vorliegt, muss aufgrund fehlender Regelungen im SEBG erneut anhand eines Vergleichs mit der Wahl eines Betriebsrates ermittelt werden. Hierzu hat die Rechtsprechung den Grundsatz entwickelt, dass eine Wahl erst dann nichtig ist, wenn gegen allgemeine Grundsätze einer ordnungsgemäßen Wahl in so hohem Maße verstoßen worden ist, dass auch der Anschein einer Wahl nicht mehr vorliegt. Da dies praktisch nie der Fall sein wird gilt, dass ein Fehler bei der Bildung des BVG nur im Ausnahmefall zur Nichtigkeit der abgeschlossenen Beteiligungsvereinbarung führen wird.

Fazit und Ausblick

Auch der zweite Schritt der Arbeitnehmermitbestimmung, die Bildung des BVG, ist ein komplexer Vorgang, der eine gründliche Organisation erfordert. Anders als bei der Information, müssen hier allerdings die Arbeitnehmer selbst aktiv werden und sind selbst für die ordnungsgemäße Durchführung verantwortlich. Dennoch ist eine Vorbereitung und Begleitung dieses Abschnittes des Arbeitnehmerbeteiligungsverfahrens durch die Unternehmen in der Praxis häufig unerlässlich, um insbesondere Verzögerungen bei der Eintragung der SE zu verhindern.

In unserem nächsten Beitrag in dieser Reihe werden wir das Verhandlungsverfahren näher beleuchten und praktische Tipps für einen reibungslosen Ablauf geben.