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(Wieder) mehr Video-Verhandlungen an deutschen Gerichten?

29.11.2022

Justizministerium veröffentlicht Referenten-Entwurf zur Förderung des Einsatzes von Videokonferenztechnik

Die Möglichkeit mündliche Verhandlungen per Bild- und Tonübertragung durchzuführen wurde während der letzten beiden Pandemiejahre aus dem Dornröschenschlaf geweckt. In letzter Zeit drohte sie allerdings wieder einzuschlafen. Ein am 23. November 2022 vom Bundesministerium der Justiz (BMJ) vorgestellter Referentenentwurf zu einem „Gesetz zur Förderung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in der Zivilgerichtsbarkeit und den Fachgerichtsbarkeiten“ will das verhindern.

§ 128a ZPO ermöglicht seit gut 20 Jahren Videoverhandlungen – aber erst die Corona-Krise führte dazu, dass diese Option erfolgreich flächendeckender genutzt wurde. Durch den Einsatz moderner Videokonferenztechnik konnten teils deutliche Verbesserungen der Verfahrenseffizienz erreicht, erhebliche (Reise-)Kosten eingespart und der ökologische Fußabdruck eines Gerichtsverfahren verbessert werden. Mit der Lockerung der Beschränkungen sank die Bereitschaft der Gerichte zu Videoverhandlungen aber vielfach wieder. In den Fachgerichtsbarkeiten zeigt sich ein ähnliches Bild.

Der Referentenentwurf will dem entgegenwirken und es soll – mit den Worten des Bundesjustizministers – „ein weiterer Schritt auf dem Weg zu einem zukunftsfähigen Rechtsstaat“ und einer moderneren, digitaleren und bürgerfreundlicheren Justiz gegangen werden.

Künftig Anordnung von Videoverhandlungen durch das Gericht möglich, übereinstimmende Anträge können nur noch mit sachlicher Begründung abgelehnt werden

Der Referenten-Entwurf sieht vor, dass Videoverhandlungen künftig nicht wie bisher nur auf Antrag der Parteien oder von Amts wegen gestattet, sondern durch das Gericht angeordnet werden können. Im Falle einer solchen Anordnung steht es der Partei dann auch nicht länger frei, wahlweise per Video oder vor Ort teilzunehmen. Widerspricht eine Partei einer solchen Anordnung innerhalb der vom Gericht gesetzten Frist, ist sie allerdings von der Videoverhandlung auszunehmen. Einer Begründung des Widerspruchs bedarf es nicht; d.h. niemand wird gezwungen, gegen den eigenen Willen auf eine physische Anwesenheit bei Gericht zu verzichten. Es wird jedoch früh Klarheit darüber bestehen, welche Beteiligten vor Ort sein werden und welche nicht.

Beantragen die Parteien übereinstimmend eine Videoverhandlung, kommt es nach den Plänen des BMJ zu einer Ermessensreduktion des Gerichts. In diesem Fall soll das Gericht künftig eine Videoverhandlung anordnen. Eine Ablehnung muss sachlich begründet werden und ist anfechtbar. Fehlende Technik wird ein sachlicher Grund bleiben. Warum ein konkretes Verfahren für eine Videoverhandlung ungeeignet sein soll, werden die Gerichte aber näher begründen müssen.

Durch die neue Struktur wird einerseits die gerichtliche Terminplanung erleichtert, andererseits das Risiko begrenzt, dass sich Gerichte aus sachfremden Erwägungen heraus der Videotechnik verschließen, ohne dass den Parteien insoweit ein Rechtsmittel zur Verfügung stünde.

Hybrid-Konzepte und vollständig virtuelle Verhandlungen

Die bisherigen Regelungen erlauben es nur den Parteien, Zeug:innen und Sachverständigen an der mündlichen Verhandlung per Bild- und Tonübertragung teilzunehmen. Diese Beschränkung soll nach den Plänen des BMJ nunmehr aufgelöst werden. Künftig sollen auch hybride Konzepte oder sogar eine sog. „vollvirtuelle Verhandlung“ möglich sein. Hierbei halten sich einzelne Mitglieder des Spruchkörpers oder – in letzterem Fall – sogar das gesamte Gericht nicht mehr im Sitzungssaal auf. Diese Öffnung soll der Flexibilisierung der Richterschaft dienen und damit eine kürzere Verfahrensdauer fördern. Zur Gewährleistung der Öffentlichkeit wird allerdings die vollvirtuelle Verhandlung zusätzlich in einen öffentlich zugänglichen Raum im Gericht übertragen werden müssen.

Videobeweisaufnahme und Hinzuziehung von Dolmetscher:innen wird gestärkt

Die Möglichkeiten der Videobeweisaufnahme will der Referentenentwurf stärken, indem zukünftig etwa eine Inaugenscheinnahme im Wege der Videobeweisaufnahme möglich sein soll. Auch Dolmetscher:innen sollen sich per Video dazuschalten können, was deren Verfügbarkeit verbessern dürfte. Um unerwünschte Einflussnahmen Dritter auszuschließen, soll das Gericht künftig bei Bedarf anordnen können, dass sich Zeug:innen oder Parteien während der Videoverhandlung in einer vom Gericht zu bestimmenden Geschäftsstelle eines anderen, ortsnäheren Gerichts aufzuhalten haben.

Aufzeichnung der mündlichen Verhandlung

Schließlich ist in Erweiterung von § 160a ZPO geplant, dass das Gericht eine vorläufige Bild- und Tonaufzeichnung der Verhandlung anfertigen kann. Die Aufzeichnung soll der vereinfachten Erstellung sowie der Steigerung der Genauigkeit, Vollständigkeit und des Beweiswerts des Protokolls dienen. In Verfahren mit Streitwerten über EUR 5.000 sollen die Parteien künftig beantragen können, dass Aussagen von Zeug:innen, Sachverständigen oder einer vernommenen Partei vorläufig aufgezeichnet werden. Ablehnungen derartiger Anträge sind zu begründen, nach den Plänen des BMJ aber nicht anfechtbar. Zur Überprüfung der Richtigkeit des Protokolls soll den Parteien zudem Einsichtnahme in die vorläufigen Aufzeichnungen gestattet werden.

Virtuelle Rechtsantragsstelle, Zwangsvollstreckung und Kostensenkung

Neben der Ausweitung virtueller mündlicher Verhandlungen in Zivil- und Fachgerichtsbarkeit sollen künftig auch Anträge und Erklärungen zu Protokoll der Geschäftsstelle per Bild- und Tonübertragung möglich sein. Mit der Schaffung einer virtuellen Rechtsantragsstelle verspricht sich das BMJ insbesondere Erleichterungen für die Bürger:innen im Bereich der Prozesskosten- und Beratungshilfe.

Auch in die Zwangsvollstreckung soll die Videotechnik Einzug halten. So sollen künftig Gerichtsvollzieher:innen Vermögensauskünfte auf diesem Wege abnehmen können, was zu erheblichen Zeitersparnissen führen kann.

Durch den Wegfall der bisherigen Auslagenpauschale für Videotermine soll es zudem zu einer weiteren Kostensenkung für die Parteien kommen.

Folgen für die Praxis

Nicht nur im Bereich von Massenverfahren hat sich gezeigt, dass die persönliche Anwesenheit aller Verfahrensbeteiligter im Gerichtssaal vielfach nicht erforderlich und mit unverhältnismäßigen Kosten verbunden ist. Dies insbesondere dann, wenn auf Grundlage weitgehend unstreitiger Sachverhalte „nur“ um Rechtspositionen gestritten wird. Gleichzeitig waren die Parteien aber bisher vielfach von den persönlichen Vorlieben einzelner Richterpersönlichkeiten abhängig. Fehlte es hier an Technikaffinität, wurden Anträge nach § 128a ZPO oft pauschal zurückgewiesen.

Die gut gemeinten Ansätze des Referentenentwurfs drohen aber an der Realität in deutschen Gerichtssälen zu scheitern, wenn die geplante rechtliche Stärkung virtueller Verhandlungen in Zivil- und Fachgerichtsbarkeit nicht auch mit einer entsprechenden technischen Ausstattung der Gerichte einhergeht. Dies unterstellt bieten die geplanten Regelungen allerdings nicht nur erhebliches Potential zur Kosteneinsparung, sondern gleichzeitig auch die Chance, dass Parteien einfach und unkompliziert von überall in Deutschland an Gerichtsverfahren persönlich teilnehmen und damit die Akzeptanz gerichtlicher Entscheidungen gestärkt wird. Nicht zuletzt tragen Videoverhandlungen maßgeblich zu einer gesteigerten Nachhaltigkeit gerichtlicher Verfahren bei.

Noerr ist Vorreiter bei der Abwehr von Kollektivklagen und Massenverfahren. Mit einem spezialisierten Team von über 50 Rechtsanwält:innen der Praxisgruppe Class & Mass Action Defense berät Noerr regelmäßig bei der Verteidigung gegen Kapitalanlegermusterverfahren, Musterfeststellungsklagen und Verbandsklageverfahren ebenso wie bei der Abwehr von Inanspruchnahmen durch strukturierte Klagevehikel und in Massenverfahren. Gerade bei Massenverfahren tragen Videoverhandlungen zur Effizienzsteigerung bei.

 

 

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