Bundestag beschließt Musterfeststellungsklage mit Änderungen auf den letzten Metern
Der Bundestag hat am 14.06.2018 die Einführung einer Musterfeststellungsklage in der Zivilprozessordnung (ZPO) zum 01.11.2018 beschlossen. Mit der Musterfeststellungsklage können Verbraucherverbände künftig Rechtsverhältnisse oder tatsächliche oder rechtliche Anspruchsvoraussetzung für eine Vielzahl von Verbrauchern gegenüber einem Unternehmer verbindlich feststellen lassen (vgl. hierzu zuletzt Noerr-Meldung vom 11.05.2018). Gibt das Gericht der Musterfeststellungsklage statt, müssen die Verbraucher ihre Ansprüche gegen den Unternehmer zwar noch einzeln einklagen, allerdings ist das Gericht im Folgeprozess an die Feststellungen des Musterfeststellungsurteils gebunden.
Im Rahmen des in der vergangenen Woche mit Höchstgeschwindigkeit durchgeführten Gesetzgebungsverfahrens haben sich dabei noch wesentliche Änderungen ergeben:
- Erstinstanzlich ist nunmehr das Oberlandesgericht am Sitz des beklagten Unternehmens zuständig. Die Revision zum Bundesgerichtshof ist immer zulässig.
- Auch Nicht-Verbraucher sollen von einem Musterfeststellungsurteil zumindest indirekt profitieren.
- Weitere Erleichterungen für Verbraucher und öffentlich geförderte Verbraucherverbände.
- Klärung des Verhältnisses verschiedener Musterfeststellungsklagen zueinander.
Gesetzgebung mit Höchstgeschwindigkeit
Der Regierungsentwurf vom 09.05.2018 (vgl. hierzu Noerr-Meldung vom 11.05.2018), wurde bereits am 08.06.2018 in erster Lesung beraten und am 11.06.2018 in einer öffentlichen Sachverständigenanhörung des Rechtsausschusses unter Beteiligung von sachverständigen Professoren,Vertretern der Justiz sowie von Interessenvertretern der Verbraucher und der Wirtschaft lebhaft diskutiert. Trotz breiter Kritik aus Praxis, Wissenschaft und Wirtschaft, hat der Bundestag den Gesetzesentwurf der Koalitionsfraktionen in einer vom Rechtsausschuss geänderten Fassung (BT-Drs. 19/2741) bereits drei Tage später am 14.06.2018 in zweiter und dritter Lesung beschlossen. Zugleich wurde der Entwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zu einer Gruppenklage erneut abgelehnt.
Erstinstanzliche Zuständigkeit der Oberlandesgerichte und Verfahrensbeschleunigung
Schnell soll nach dem Willen des Gesetzgebers auch das Verfahren der Musterfeststellungsklage sein: In sachlicher Hinsicht sind jetzt die Oberlandesgerichte statt der Landgerichte für die Verhandlung und Entscheidung von Musterfeststellungsklagen zuständig (§ 119 Abs. 3 S. 1 GVG n.F.), so dass eine Instanz entfällt. Diese Beschränkung des Verfahrenszugs auf eine Tatsacheninstanz ist an die entsprechende Regelung des § 118 GVG für Musterverfahren in kapitalmarktrechtlichen Streitigkeiten (KapMuG) angelehnt, in der allerdings ein Vorlagebeschluss des Gerichts und nicht eine Verbandsklage das Verfahren auslöst.
In örtlicher Hinsicht bestimmt der neue § 32c ZPO n.F. eine ausschließliche Zuständigkeit des Gerichts am allgemeinen Gerichtsstand des Beklagten, also regelmäßig an dessen Sitz. Den Ländern wird zudem die Möglichkeit der Zuständigkeitskonzentration bei einem Oberlandesgericht eingeräumt (§ 119 Abs. 3 S. 2 GVG n.F.).
Eine Überprüfung des Musterfeststellungsurteil erfolgt mithin nur durch das Rechtsmittel der Revision durch den Bundesgerichtshof in Hinblick auf Rechtsfehler, § 614 S. 1 ZPO n.F. Der Weg zum Bundesgerichtshof ist dabei immer eröffnet, denn nach § 614 S. 2 hat die Rechtssache im Musterfeststellungsverfahren stets grundsätzliche Bedeutung.
Die Verkürzung des Verfahrenszuges und die Spezialisierung der Gerichte durch die Konzentrationsmöglichkeit soll nach dem Willen der Regierungskoalition eine zügige und effiziente Verfahrenserledigung ermöglichen und damit der Kritik der zu langen Verfahrensdauer – wohl auch aufgrund der bisherigen Erfahrungen mit dem KapMuG – entgegenwirken. Ein Effizienz- und Beschleunigungsgewinn soll zudem durch die neu aufgenommene Regelung in § 610 Abs. 4 ZPO n.F. erfolgen, wonach das Gericht spätestens im ersten Termin zur mündlichen Verhandlung auf sachdienliche Klageanträge hinzuwirken hat. Die Regelung gibt Hoffnung, dass hierdurch missbräuchliche, nicht zielführende oder für die Folgeprozesse irrelevante Anträge bereits frühzeitig aussortiert werden und das Verfahren nicht vollkommen überladen wird.
Nicht-Verbraucher sollen von den Feststellungen indirekt profitieren
Die Musterfeststellungsklage kann unverändert nur auf die Feststellung von tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen für Ansprüche oder Rechtsverhältnisse zwischen Verbrauchern und einem Unternehmer gerichtet sein; nur Verbraucher können ihre behaupteten Ansprüche gegen den beklagten Unternehmer im Klageregister zur Anmeldung eintragen und damit die Bindungswirkung eines rechtskräftigen Musterfeststellungsurteils für das nachfolgend zwischen ihnen und dem beklagten Unternehmer geführte Verfahren herbeiführen (§§ 606 Abs. 1 S. 1, 608, 613 Abs. 1 ZPO n.F.).
Die Unterscheidung zwischen Verbrauchern und kleinen Unternehmen sei nicht sachgemäß, so lautete die Kritik im Vorfeld. Dem soll nun mit einer „Zwischenlösung“ entgegengewirkt werden, wonach ein Gericht in Verfahren, in denen die Entscheidung des Rechtsstreits von den Feststellungszielen einer anhängigen Musterfeststellungsklage abhängt, auf Antrag eines Klägers, der nicht Verbraucher ist, die Verhandlung bis zur Erledigung des Musterfeststellungsverfahrens aussetzen kann (§ 148 Abs. 2 ZPO n.F.). Offenkundig hofft der Gesetzgeber auf eine rein faktische Bindungswirkung. Denn eigentlich muss in diesem Fall jedes Gericht noch selbst entscheiden, ob es den Feststellungen im Musterklageverfahren folgt und ob sie auf den jeweils vorliegenden Fall anwendbar sind. Ob dies praxistauglich sein wird, bleibt abzuwarten.
Weitere Erleichterungen für Verbraucherzentralen und Verbraucher
Grundsätzlich bleibt es bei einer in § 606 Abs. 1 S. 1, 2 ZPO n.F. eingeschränkten Klagebefugnis für qualifizierte Einrichtungen im Sinne des § 3 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 UKlaG (vgl. Noerr-Meldung vom 11.05.2018). Allerdings gibt es für Verbraucherzentralen und andere Verbraucherverbände, die überwiegend mit öffentlichen Mitteln gefördert werden, eine Erleichterung der Klageerhebung: Für diese gilt eine unwiderlegliche Vermutung, dass die besonderen Voraussetzungen vorliegen (§ 606 Abs. 1 S. 4 ZPO n.F.).
Auch die Anmeldung der Ansprüche durch die Verbraucher wurde erneut erleichtert. Eine Anmeldung zum Klageregister ist jetzt auch ohne die Angabe eines Forderungsbetrages wirksam. Eine inhaltliche Prüfung der Angaben zur Anmeldung erfolgt weiterhin nicht, § 608 Abs. 2 ZPO n.F.
Die Stellung der Verbraucher wurde im Vergleich zum vorherigen Entwurf weiter dahingehend verbessert, dass die Rücknahme der Anmeldung und die damit verbundene Beseitigung der Bindungswirkung nunmehr noch bis zum Ablauf des Tages des Beginns der mündlichen Verhandlung in erster Instanz erfolgen kann, und nicht mehr wie die Anmeldung bis zum Ablauf des Tages vor Beginn des ersten Termins erfolgen muss, § 608 Abs. 1, Abs. 3 ZPO n.F. Verbraucher können damit die erste mündliche Verhandlung abwarten und entsprechend entscheiden, ob sie ihre Anmeldung aufrechterhalten lassen wollen. Verläuft die erste mündliche Verhandlung für den Verbraucher nachteilig, kann er mithin noch aus dem Musterverfahren fliehen.
Und beim ersten Mal werden die Verfahren verbunden…
Weiterhin bestand hinsichtlich der Musterfeststellungsklage die Gefahr eines Windhundrennens der klagebefugten Verbände (siehe Noerr-Meldung vom 11.05.2018), da mit Rechtshängigkeit der Musterfeststellungsklage keine weitere Musterfeststellungsverfahren eines anderen Verbands auf der Grundlage desselben Lebenssachverhaltes erhoben werden konnte. Dieses Problem wird etwas abgemildert, da nunmehr eine weitere Musterfeststellungsklage nur dann nicht erhoben werden kann, soweit deren Streitgegenstand denselben Lebenssachverhalt und dieselben Feststellungsziele betrifft. Damit soll eine weitere Musterfeststellungsklage nicht deshalb blockiert werden, weil der erste Musterfeststellungsantrag zu eng gefasst sei.
Eine Verbindung ist jetzt zwar möglich, aber nur dann, wenn mehrere Musterfeststellungsanträge am gleichen Tag und zum selben Lebenssachverhalt und zu denselben Feststellungsziele eingehen. Begründet wird die Änderung damit, dass es nicht sachgerecht sei, dass „beinahe identische oder sehr ähnliche Klagen am selben Tag eingehen“ und es in diesen Fällen „vom Zufall“ abhängt, welche Klage zuerst zugestellt und damit rechtshängig wird und so die Sperrwirkung für weitere Klagen auslöst. Eine Regelung, die wohl nötig wurde, um die zum 01.11.2018 zu erwartende Konkurrenz verschiedener Klagen in den Griff zu bekommen.
Ausblick
Die Musterfeststellungsklage ist eine politisch für den Einzelfall gewollte Klageart, mit allen damit verbundenen Defiziten im Gesetzgebungsverfahren. Dabei fügt sie dem Zivilprozess eine weit über den Einzelfall hinaus bedeutsame Klageart hinzu. Die Musterfeststellungsklage bleibt im Ansatz umstritten und wirft weiterhin eine Vielzahl von Rechtsfragen auf. Daher werden die Gerichte in den kommenden Jahren nicht nur mit den Feststellungen der tatsächlich und rechtlichen Anspruchsvoraussetzungen des einzelnen Musterverfahrens beschäftigt sein, sondern ebenso mit der Klärung der vielen offenen Rechtsfragen im Zusammenhang mit dem Musterfeststellungsverfahren selbst.