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Leiharbeit: BAG lässt Privilegierung der Personalgestellung nach § 4 Abs. 3 TVöD von EuGH überprüfen

19.07.2021

Die Verfassungsmäßigkeit und die Vereinbarkeit des § 1 Abs. 3 Nr. 2b AÜG, der die öffentliche Hand bei der Personalgestellung nach § 4 Abs. 3 TVöD privilegiert, ist schon lange umstritten. Das BAG hat dem Europäischen Gerichtshof nun mit Beschluss vom 16.06.2021 (6 AZR 390/20 A) zwei Fragen zur Auslegung der Leiharbeitsrichtlinie vorgelegt. Einerseits soll der EuGH klären, ob die Personalgestellung im Sinne des § 4 Abs. 3 TVöD in den Anwendungsbereich der Leiharbeitsrichtlinie (Art. 1 Abs. 1 und Abs. 2 der Richtlinie 2008/104/EG) fällt. Sollte der EuGH dies bejahen, komme es weiterhin für die Entscheidung darauf an, ob die Leiharbeitsrichtlinie eine Bereichsausnahme wie die in § 1 Abs. 3 Nr. 2b AÜG geregelte zulasse.

Die Beklagte, deren Trägerin eine Körperschaft des öffentlichen Rechts ist, betreibt ein Krankenhaus. Auf das Arbeitsverhältnis findet der Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes (TVöD) Anwendung. Eine Erlaubnis zur Arbeitnehmerüberlassung besitzt die Beklagte nicht. Im Wege einer Umstrukturierung verlagerte die Beklagte die Aufgabenbereiche des bei ihr angestellten Klägers auf eine neu gegründete GmbH. Der Kläger widersprach einem Betriebsübergang nach § 613a Abs. 6 BGB und wurde daraufhin angewiesen, seine vertraglich geschuldete Arbeitsleistung dauerhaft im Wege der Personalgestellung bei diesem Drittunternehmen zu erbringen. Der Kläger hat im Rechtsstreit geltend gemacht, bei der Personalgestellung im Sinne des § 4 Abs. 3 TVöD handele es sich um eine dauerhafte und damit nach der Richtlinie 2008/104/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. November 2008 über Leiharbeit rechtswidrige Arbeitnehmerüberlassung. Sein Einsatz bei dem Drittunternehmen verstoße deshalb gegen Unionsrecht. Dem hielt die Beklagte die in § 1 Abs. 3 Nr. 2b AÜG geregelte Bereichsausnahme für den öffentlichen Dienst entgegen, bei der Personalgestellung handele es sich somit nicht um eine unzulässige Arbeitnehmerüberlassung. Die Bereichsausnahme trägt laut Gesetzesbegründung dem Umstand Rechnung, dass eine Personalgestellung funktional als eine besondere Form der Aufgabenverlagerung anzusehen ist und im Bestandsschutzinteresse der von der Aufgabenverlagerung betroffenen Arbeitnehmer erfolge.

Für die öffentliche Hand hätte eine Unwirksamkeitserklärung des § 1 Abs. 3 Nr. 2b AÜG weitreichende Konsequenzen. Die Personalgestellung ist ein häufig genutztes Mittel bei der Privatisierung öffentlich-rechtlicher Aufgaben. Dem Landesgesetzgeber stünde beispielsweise bei Geltung des AÜG nicht mehr die Möglichkeit zu, für Arbeitnehmer gesetzliche Gestellungsregelungen bei Umstrukturierungen, Aufgabenübergängen oder Ähnlichem zu treffen oder aufrechtzuerhalten. Dies ergibt sich daraus, dass der Bund dann von seiner konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz nach Art. 74 I Nr. 12 GG mit dem Verbot im AÜG abschließend Gebrauch gemacht hätte. Bedeutsam wäre eine Entscheidung ebenfalls unter dem Gesichtspunkt des Kündigungsschutzes: Bisher galt eine Personalgestellung nach dem Ultima-ratio Prinzip gegenüber einer Kündigung als vorzugswürdig.

Für die Praxis ist zudem unter folgendem Gesichtspunkt besondere Vorsicht geboten: Sollte der EuGH die Regelung des § 1 Abs. 3 Nr. 2b AÜG für unzulässig erklären, handelt ein (öffentlicher) Arbeitgeber, der entgegen § 1 AÜG einen Arbeitnehmer ohne Erlaubnis überlässt nach § 16 Abs. 1 Nr. 1 AÜG ordnungswidrig. Hier kann ein Bußgeld von bis zu 30.000 EUR bei illegaler Arbeitnehmerüberlassung gegen den Verleiher (Abs. 1 Nr. 1) und den Entleiher (Abs. 1 Nr. 1a) verhängt werden. Zudem wird bekanntlich zwischen dem Entleiher und Leiharbeitnehmer nach § 10 AÜG ein Arbeitsverhältnis fingiert; der betroffene Arbeitnehmer scheidet damit gegen seinen Willen aus dem Öffentlichen Dienst aus.

Von noch nicht absehbarer Tragweite und besonderer Brisanz könnte sich in diesem Zusammenhang außerdem eine nachträgliche Ausgleichspflicht des öffentlichen „Verleihers“ gegenüber der Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder (VBLS) bzw. den übrigen Zusatzversorgungskassen der Gemeinden (ZVK) darstellen. Hintergrund ist Folgender:

Die Zusatzversorgungskassen stellen für die Beschäftigten des öffentlichen Bereichs die tarifvertraglich vereinbarte betriebliche Altersversorgung sicher. Die Betriebsrente aus der Pflichtversicherung umfasst Altersrenten, Hinterbliebenenrenten und Erwerbsminderungsrenten und erfolgt im Umlage- und Kapitaldeckungsverfahren. Gliedert ein Mitglied der VBLS bzw. ZVK einen Teil seiner Arbeitnehmer aus, löst dies gemäß der Satzung der VBLS bzw. der jeweiligen Satzung der übrigen ZVK einen Ausgleichsanspruch aus (§ 23d der Satzung der VBLS bzw. beispielhaft §§ 15 Abs. 1, 15f der Satzung der ZVK für die Gemeinden und Gemeindeverbände in Wiesbaden). Mit den Vorschriften wird (tarifvertraglich) geregelt, dass Mitglieder der VBLS bzw. der ZVK, die einen (wesentlichen) Teil ihrer Pflichtversicherten auf einen nicht beteiligten Arbeitgeber übertragen, verpflichtet sind, zum Ausgleich für bei der VBL bzw. der ZVK verbleibenden Lasten einen anteiligen Gegenwert zu zahlen. Die Personalübertragung kann auf einer Rechtsvorschrift oder auf einer Vereinbarung (insbesondere einem Betriebsübergang, § 613a BGB) beruhen. Wurden Arbeitnehmer in der Vergangenheit im Wege einer Umstrukturierung auf einen privaten Projektpartner übertragen und dies ist nun nicht mehr als zulässige Personalgestellung, sondern als unerlaubte Arbeitnehmerüberlassung zu qualifizieren, so gilt ein Arbeitsverhältnis zwischen Entleiher und Leiharbeitnehmern als zustande gekommen, § 10 Abs. 1 AÜG. Die Arbeitsverhältnisse gehen folglich aufgrund einer Rechtsvorschrift auf den privaten Projektpartner über. Dies könnte nachträglich als Übergang bzw. Ausgliederung im Sinne der Satzungen zu werten sein, die die besagten Ausgleichsansprüche auslösen. War dies eine Praxis, die der öffentliche Arbeitgeber in der Vergangenheit vermehrt durchgeführt hat, könnte nunmehr auf einen Schlag eine immense Summe an Ausgleichsansprüchen entstehen, die insgesamt ein Risiko für den Finanzhaushalt der Kommunen darstellen.

Insofern richten sich von nun an nicht nur die Blicke der Arbeitsrechtler nach Straßburg, sondern auch die so manchen Kämmerers.

 

 

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