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Welche sozialversicherungsrechtlichen Konsequenzen hat der Brexit?

27.03.2019

In Bezug auf den Brexit ist zurzeit einzig sicher: Die Zeit läuft (ab). Wie ein möglicher Brexit konkret aussehen wird, ob und wenn ja, wann ein solcher überhaupt stattfinden wird, ist selbst in diesen Stunden kurz vor Ablauf der Austrittsfrist noch immer völlig unklar.

Da dies auch auf sozialversicherungsrechtlicher Ebene unterschiedliche Konsequenzen nach sich ziehen kann, lohnt es sich, die potentiellen Szenarien einmal zu durchdenken und einander gegenüber zu stellen:

  • Szenario 1: Großbritannien und die EU einigen sich (doch noch) auf den von der EU-Kommission vorgelegten Entwurf eines Austrittsabkommens.
  • Szenario 2: Es folgt dem Brexit ein nahtloser Beitritt Großbritanniens zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR).
  • Szenario 3: Großbritannien tritt ohne Einigung auf ein Austrittsabkommen aus der EU aus (sog. harter Brexit).

Szenario 1: Großbritannien und die EU einigen sich (doch noch) auf den von der EU-Kommission vorgelegten Entwurf eines Austrittsabkommens.

Nach diesem wird der Status Quo der Koordinierung der sozialen Sicherungssysteme jedenfalls bis Ende 2020 verlängert. Bis zu diesem Zeitpunkt dienen dann auch, wie bisher bei grenzüberschreitenden Beschäftigungsverhältnissen, sog. A1-Bescheinigungen zur Festlegung der Anwendbarkeit eines länderspezifischen Sozialversicherungsrechts und der zuständigen Behörde.

Szenario 2: Es folgt dem Brexit ein nahtloser Beitritt Großbritanniens zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR).

Da die EU-Verordnungen zur Koordinierung der sozialen Sicherungssysteme ebenfalls in allen EWR- Staaten Anwendung finden, ergäben sich hier auch über 2020 hinaus sozialversicherungsrechtlich keine Änderungen. Gleiches gilt im Übrigen dann, wenn Großbritannien nach dem Brexit ein Abkommen über Personenfreizügigkeit mit der EU abschließt, durch das es die gleichen Sozialversicherungsrechte wie die EU-und die EWR-Staaten erhielte.

Szenario 3: Großbritannien tritt ohne Einigung auf ein Austrittsabkommen aus der EU aus (sog. harter Brexit).

In den letzten Tagen und Wochen hat sich abgezeichnet, dass trotz aller Bemühungen, den Eintritt dieses Szenarios nach dem 29. März 2019 zu verhindern, die Möglichkeit eines ungeordneten Austritts Großbritanniens jedenfalls zu einem späteren Zeitpunkt weiterhin als ernstzunehmende Option im Raum steht. Im Rahmen dieses Szenarios wäre das Verhältnis zu Großbritannien zunächst - mangels weiterer Anwendbarkeit der Europäischen Verordnungen zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (VO (EG) 883/2004 und VO (EG) 987/2007) - dem Verhältnis zu einem sonstigen außereuropäischen Drittstaat gleichgestellt. Daher käme es hier zum Grundsatz der Doppelversicherungspflicht.

Im bilateralen Verhältnis zwischen Großbritannien und Deutschland entstünde trotz Wegfalls der bisher geltenden europäischen Verordnungen kein Rechtsvakuum. Statt der oben genannten Verordnungen lebte vielmehr das Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland über Soziale Sicherheit vom 20. April 1960 wieder auf.

Dessen Art. 5 Abs. 2 stellt - vergleichbar zum derzeit geltenden Art. 12 (1) der VO (EG) 883/2004 - sicher, dass Großbritannien aus deutscher Perspektive wieder zu einem Abkommensstaat wird. Nach dem Abkommen gilt dabei wechselseitig eine Anerkennung des bestehenden Sozialversicherungsstatus aus dem Heimatland für 12 Monate mit Verlängerungsoption durch Zustimmungserteilung. Der Wortlaut der betreffenden Passage lautet wie folgt:

„Wird eine Person, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Hoheitsgebiet einer Vertragspartei hat und bei einem Arbeitgeber beschäftigt ist, der dort einen Betriebssitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, von diesem Arbeitgeber im Hoheitsgebiet der anderen Vertragspartei beschäftigt, so gelten für einen Zeitraum von zwölf Monaten die Rechtsvorschriften der ersten Vertragspartei, als ob sie in deren Hoheitsgebiet beschäftigt wäre. Wird die Beschäftigung im Hoheitsgebiet der zweiten Vertragspartei über die ersten zwölf Monate fortgesetzt, so finden auf sie die Rechtsvorschriften der ersten Vertragspartei weiterhin für einen bestimmten Zeitraum Anwendung, vorausgesetzt, daß die zuständige Behörde der zweiten Vertragspartei oder die von ihr bestimmte Stelle hierzu vor Ablauf der ersten zwölf Monate ihre Zustimmung gegeben hat.“

In Art. 6 des Abkommens ist diese Statutenregelung auf Freelancer ausgedehnt – allerdings dort ohne Verlängerungsoption, also ausschließlich für 12 Monate.

Zu großer Optimismus ist angesichts dieser beschränkten Regelung nicht angebracht. Das Abkommen regelt nicht, welche Stelle für die Zustimmung zur Verlängerung zuständig ist und unter welchen Bedingungen diese Zustimmung zur Verlängerung erteilt oder verweigert werden darf. Ebenso schweigt es zu der Frage, ab welchem Zeitpunkt die zwölf Monate zu rechnen sind. In Frage kommen hier zwei Deutungsalternativen: Zum einen könnten sich die 12 Monate ab dem Moment der Aufnahme der Beschäftigung im Ausland berechnen. Es erscheint aber zumindest vom Wortlaut her auch nicht ausgeschlossen, dass die britischen Sozialversicherungsträger eine Auslegung dahingehend akzeptieren wird, dass die 12-Monatsfrist erst mit dem „Wiederaufleben“ des alten Abkommens von 1960, also am Tag des harten Brexits, in Gang gesetzt wird. Während letzteres bürgerfreundlicher wäre, liegt die erste Auslegung – auch angesichts des Satzes 2, in dem es „in den ersten 12 Monaten“ heißt – vom Wortlaut her näher.

Aus dem Sozialversicherungsabkommen ergibt sich daher vorerst nur für eine sehr beschränkte Personengruppe Planungssicherheit: Diejenigen Freelancer oder Arbeitnehmer, die erst seit weniger als 12 Monaten im jeweiligen Ausland beschäftigt sind, können vom Erhalt ihres sozialversicherungsrechtlichen Status ausgehen, bis dieser „Puffer“ aufgebraucht ist. Für alle anderen grenzüberschreitend tätig werdenden Personen besteht - auch in sozialversicherungsrechtlicher Hinsicht – Planungsunsicherheit für den Fall des harten Brexits.

Diese Planungsunsicherheit wird auch nicht durch das am 19. März 2019 vom Rat der Europäischen Union verabschiedete „Notfallpaket“ für den harten Brexit gemildert. Die darin enthaltene Notfallverordnung, die sich mit der einseitigen Weiteranwendung europäischer Normen auf britische Staatsangehörige beschäftigt, berührt zwar die Verordnung VO (EG) 883/2004, spart aber das Thema des anwendbaren Rechts bewusst aus – eine einseitige Regelung wäre hier auch gar nicht zielführend möglich. 

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