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MarktüberwachungsVO der EU wälzt das europäische Produktrecht um

09.07.2021

Ab 16. Juli 2021 wird die behördliche Marktüberwachung für Non-Food Produkte in Europa vollständig harmonisiert. Die neue europäische Marktüberwachungsverordnung (EU) 2019/1020 („MÜ-VO“) regelt umfassend für nahezu alle Non-Food Produkte in Europa das Verfahren der mitgliedsstaatlichen Behörden beim Vollzug des europäisch harmonisierten Produktrechts. Mit dem modernen Rechtsetzungsinstrument der europäischen Verordnung und einem weit gespannten Anwendungsbereich, der sich über mehr als 70 produktbezogene Harmonisierungsrechtsakte erstreckt, beseitigt der europäische Gesetzgeber bis dato bestehende nationale Spielräume bei der Ausgestaltung der Marktüberwachung und verschärft den Kontrolldruck über die Wirtschaftsakteure.

Auch inhaltlich ist die neue europäische MÜ-VO ein Statement für eine robuste, grenzüberschreitend agierende, effiziente und zukunftsfähige Überwachung des Warenvertriebs in Europa.  Mit der Einführung eines neuen Wirtschaftsakteurs (sog. Fulfillment-Dienstleister), der Erweiterung der zentralen Begriffsdefinition „Bereitstellung auf dem Markt“ sowie mit der teils massiven Ausweitung behördlicher Eingriffsbefugnisse gerade mit Blick auf die inzwischen etablierten Geschäftsmodelle des eCommerce wird die Handlungsmacht der Behörden gegenüber den beteiligten Unternehmen deutlich verstärkt. 

Durch umfassende Harmonisierung der Marktüberwachung im Wege der europäischen Verordnung werden die in Deutschland bisher im Produktsicherheitsgesetz (ProdSG) niedergelegten Regelungen zur Marktüberwachung zum 16. Juli 2021 hinfällig. Der deutsche Gesetzgeber hat dies zum Anlass genommen, das ProdSG nicht nur um die Vorschriften zur Marktüberwachung zu erleichtern, sondern auch die dort bisher geregelten Vorschriften zu den überwachungsbedürftigen Anlagen in ein gesondertes Gesetz (ÜAnlG) zu überführen. Um die Vorgaben der MÜ-VO auch auf die wenigen Produkte zur erstrecken, die noch nicht europäisch harmonisiert sind, tritt in Deutschland am 16. Juli 2021 zudem ein neues Marktüberwachungsgesetz (MÜG) in Kraft.

Das Rechtsregime der behördlichen Überwachung von Non-Food Produkten in Europa ändert sich damit fundamental und lässt das rein deutsche ProdSG in seiner praktischen Bedeutung für die Wirtschaftsakteure weiter schrumpfen.

Für Industrie und Handel ergeben sich vielfältige Konsequenzen:

  1. EU-Marktüberwachungsverordnung

    Durch die neue europäische MÜ-VO entsteht ein harmonisierter Rahmen für die Kontrolle von Produkten auf deren Product Compliance. Der neue Rechtsrahmen gilt für alle Non-Food Produkte, die in den Anwendungsbereich der insgesamt 70 (!) europäischen  Rechtsakte fallen, welche in Anhang I MÜ-VO aufgelistet sind. Damit erstreckt sich der Anwendungsbereich auf nahezu alle relevanten Produktgruppen.

    Die Erweiterung der behördlichen Befugnisse zielen ausdrücklich insbesondere auf eine strengere und effizientere Überwachung des Online-Handels ab. Durch die Einführung des Fulfillment-Dienstleisters als neuen Wirtschaftsakteur und Adressaten behördlicher Marktüberwachungsmaßnahmen (Art. 3. Nr. 11 MÜ-VO), die Erweiterung des Bereitstellungsbegriffs auf Online-Verkaufsangebote (Art. 6 MÜ-VO) und die behördliche Befugnis, künftig auch gegen reine Online-Plattformbetreiber vorgehen und den Zugriff auf diese Plattformen notfalls sogar beschränken zu können, gibt den zuständigen Behörden das erforderliche Instrumentarium an die Hand, das sie für eine effektive Kontrolle des eCommerce – gerade auch im Interesse eines wettbewerbsneutralen Vollzugs im Vergleich mit dem stationären Handel – benötigt.

    Der Ausbau der behördlichen Befugnisse geht allerdings weit über den Online-Handel hinaus. Der europäische Gesetzgeber hat aus der  Vollzugserfahrung der Behörden in den letzten Jahrzehnten gelernt. Zahlreiche Präzisierungen und Erweiterungen der bisher bekannten behördlichen Befugnisse im Detail setzen die Behörden in die Lage, die Marktüberwachung künftig deutlich schärfer zu gestalten:

    • Zahlreiche Konsumenten- und Industrieprodukte werden in Europa nach den Vorgaben aus Art. 4 MÜ-VO nur noch vertrieben werden können, wenn überprüfbar eine im europäischen Wirtschaftraum ansässige Person existiert, die klar umrissene Aufgaben in Zusammenhang mit dem Produktvertrieb wahrnimmt (z.B. Wahrnehmung behördlicher Notifikationspflichten,  Bereithaltung technischer Unterlagen).
    • Marktüberwachungsbehörden dürfen künftig explizit unter falscher Identität Produktproben erwerben, die Konformität von Produkten im Wege der Nachkonstruktion (sog. reverse engineering) überprüfen oder Zugang zu eingebetteter Software verlangen (Art. 14 MÜ-VO). Die Wirtschaftsakteure müssen in erforderlichem Maße mit den Behörden kooperieren.
    • Bevollmächtigte eines Herstellers müssen ihr Mandat gegenüber den nationalen Behörden vollständig offenlegen und zahleiche klar definierte Aufgaben wahrnehmen (Art. 5 i.V.m. Ar. 4 Abs. 3 MÜ-VO).
    • Die Tätigkeit der Marktüberwachungsbehörden hat künftig nach einem risikobasierten Ansatz zu erfolgen (Art. 11 Abs. 3 MÜ-VO). Bei der Auswahl der zu prüfenden Produkte muss insbesondere auch berücksichtigt werden, ob ein Wirtschaftsakteur bereits in der Vergangenheit durch Verstöße gegen die Vorgaben der Product Compliance aufgefallen ist.
    • Die mitgliedsstaatlichen Behörden müssen künftig Marktüberwachungsprogramme nach einheitlichen europäischen Standards entwickeln (Art. 13 MÜ-VO), sind zur grenzüberschreitenden Kooperation sowie zur Gewährung effektiver Amtshilfe (Art. 22. MÜ-VO) verpflichtet und müssen sich regelmäßigen Bewertungen durch andere Behörden (sog. Peer Reviews) stellen (Art. 12 MÜ-VO).
    • In einem Mitgliedsstaat verhängte Vertriebsverbote können die Marktüberwachungsbehörden anderer Mitgliedstaaten künftig grundsätzlich ohne weitere eigene Ermittlungen nachvollziehen, was zu einem verstärkten „Domino-Effekt“ führen wird, wenn ein Produkt in einem Mitgliedsstaat in den Fokus der Marktüberwachung gerät.

    Der neue europäische Rechtsrahmen bringt in Art. 21 MÜ-VO für die Wirtschaftsakteure aber auch europaweit einheitliche Verfahrensrechte mit sich, die manch ein Betroffener in der Vergangenheit bei Beanstandungen ausländischer Behörden vermisst haben mag. Art. 19 Abs. 2 der MÜ-VO stellt über alle Produktsegmente hinweg klar, dass behördliche Risikobewertungen, die Grundlage für die Anordnung von Vertriebsverboten, Rücknahme- oder Rückrufanordnungen sind, zwingend die Eintrittswahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts zu berücksichtigen haben. Die teils kühn anmutenden Sonderwege einzelner nationaler Vollzugsbehörden - wie sie bisher beispielsweise in Zusammenhang mit der Risikobewertung von Bauprodukten bekannt waren - werden damit europarechtlich im Interesse der Wirtschaftsakteure beendet.

  2. Das neue deutsche Marktüberwachungsgesetz (MÜG)

    Produkte, die nicht in den Anwendungsbereich einer der 70 EU-Harmonisierungsrechtsakte fallen (sog. nicht-harmonisierter Bereich), unterliegen marktüberwachungsrechtlich auch in Zukunft den nationalen Verwaltungsrechten der Mitgliedsstaaten. Um ein Nebeneinander der Marktüberwachungsvorschriften für harmonisierte Produkte in der MÜ-VO einerseits und nicht-harmonisierter Produkte im deutschen Produktsicherheitsgesetz andererseits zu vermeiden, hat der deutsche Gesetzgeber sich entschieden, mit der Schaffung eines neuen Marktüberwachungsgesetzes (MÜG) einen Gleichlauf zwischen beiden Bereichen herzustellen.  Das neue MÜG erreicht dies im Wesentlichen durch entsprechende Verweise auf die Regelungen der europäischen MÜ-VO.

  3. Neuordnung des Produktsicherheitsgesetzes (ProdSG)

Aufgrund der Ausgliederung der Marktüberwachungsvorschriften aus dem ProdSG in das MÜG (namentlich der Abschnitte 6 „Marktüberwachung“ und 7 „Informations- und Meldepflichten“), ist das ProdSG deutlich schlanker worden. Im Zuge dessen hat der deutsche Gesetzgeber nach Jahren endlich auch die Gelegenheit genutzt, den fachfremden 9. Abschnitt „Überwachungsbedürftige Anlagen“ in ein eigenständiges Gesetz über überwachungsbedürftige Anlagen (ÜAnlG) zu überführen. Adressat der bislang in den §§  34 ff. ProdSG niedergelegten Regelungen ist ausschließlich der Betreiber dieser Anlagen, weshalb die Platzierung dieser Vorgaben im ProdSG stets systemwidrig erschien und nur historisch erklärbar war.

Das reformierte Produktsicherheitsgesetz verliert mit den Vorgaben zur Marktüberwachung einen großen Teil seiner praktischen Bedeutung für die Wirtschaftsakteure. Es dient künftig in erster Linie rechtstechnischen Zwecken. Abgesehen von den dort verbleibenden und durch die Reform leicht angepassten Regeln rund um das deutsche GS-Zeichen bleibt es wichtig für die Umsetzung produktbezogener EG-Binnenmarktrichtlinien sowie der allgemeinen Produktsicherheitsrichtlinie 2001/95/EG, für die Statuierung von Sicherheitsanforderungen für den nicht harmonisierten Bereich sowie für diverse Verordnungsermächtigungen.

Immerhin findet sich im reformierten ProdSG eine sehr beachtenswerte Neuerung: Die Bundesregierung erhält erstmals die Möglichkeit, mit einer Verbotsverordnung die Bereitstellung von bestimmten gefährlichen Produktgattungen proaktiv zu beschränken oder verbieten. Hintergrund der Regelung ist der Brand des Affenhauses im Krefelder Zoo in der Neujahrsnacht 2020, der durch sog. Himmelslaternen verursacht wurde. Während deren Verwendung polizeilich verboten war, musste die Marktüberwachung gegen den Verkauf dieser Produkte mit einzelnen Verbotsverfügungen gegen zahlreiche Händler vorgehen, weil der Vertrieb der Produktgattung als solcher nicht verboten war. Künftig wird dies durch die entsprechende Verbotsverordnung möglich sein. Daneben dürften – wie schon seit Jahren in Österreich – auch Laserpointer in das Visier des Verordnungsgebers geraten.


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