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Neues zum „Recht auf Vergessenwerden“

19.08.2020

Seit der EuGH im Jahr 2014 einen Anspruch auf Löschung von Links aus den Ergebnisanzeigen von Suchmaschinen bejahte, um so die Auffindbarkeit persönlichkeitsrechtsverletzender Beiträge im Internet zu reduzieren, sind Inhalt und Umfang dieses sogenannten „Rechts auf Vergessenwerden“ zunehmend zum Gegenstand weiterer gerichtlicher Auseinandersetzung geworden. Nach der Klärung seiner territorialen Reichweite (vgl. Artikel: Das Internet vergisst - aber nur in Europa) und der verfassungsrechtlichen Einordnung durch das BVerfG (vgl. Artikel: Bundesverfassungsgericht trifft Grundsatzentscheidung zum „Recht auf Vergessenwerden“) erhielt nun auch der BGH zum ersten Mal seit Inkrafttreten der DSGVO Gelegenheit, in zwei Fällen zum mittlerweile in Art. 17 DSGVO kodifizierten Löschungsanspruch Stellung zu nehmen. Sowohl zur generellen Grundrechtsgewichtung als auch zur Abwägungsverantwortung von Suchmaschinenbetreibern trifft das Gericht bemerkenswerte Aussagen. Zudem benennt der BGH mögliche Bewertungskriterien, deren Vereinbarkeit mit dem Europarecht er nun im Wege eines Vorabentscheidungsverfahrens vom EuGH prüfen lässt.

I. Verfahren VI ZR 405/18 – Entscheidung vom 27.07.2020

Dem ersten Fall lag die Klage des Geschäftsführers eines Regionalverbandes einer Wohlfahrtsorganisation zugrunde. Er hatte sich erfolglos gegen die Auffindbarkeit eines Onlineartikels in der Regionalpresse aus dem Jahr 2011 zur Wehr gesetzt, in dem über ein finanzielles Defizit des Verbands sowie darüber berichtet wurde, dass sich der namentlich genannte Geschäftsführer kurz zuvor krank gemeldet habe. Wie die Vorinstanzen lehnt auch der BGH einen Löschungsanspruch ab, da die wirtschaftlichen Interessen des Suchmaschinenbetreibers gemäß Art. 16 GrCh, das Informationsinteresse der Öffentlichkeit sowie die Meinungs- und Pressefreiheit des Publizisten gemäß Art. 11 GrCh gegenüber dem Persönlichkeitsrecht des Klägers aus Art. 7 und 8 GrCh, auch mit Blick auf den Zeitablauf, im konkreten Fall überwiegen. Die Veröffentlichung grundsätzlich sensibler, hier aber sehr allgemeiner Gesundheitsdaten wiege weniger stark, als das Öffentlichkeitsinteresse an der wirtschaftlichen Situation des Wohlfahrtsverbandes.

Bedeutsamer als diese Einzelfallbewertung sind jedoch die generellen Aussagen des BGH zum „Recht auf Vergessenwerden“. In Einklang mit dem EuGH und dem BVerfG verlangt auch er im Rahmen des Löschungsrechts gemäß Art. 17 DSGVO eine umfassende Abwägung der skizzierten widerstreitenden Grundrechtspositionen unter Berücksichtigung der Besonderheiten des konkreten Sachverhalts.

1. Entscheidungsoffene Grundrechtsabwägung im Einzelfall

Anders als vom EuGH inzwischen mehrfach betont, verneint der BGH jedoch eine Vorrangvermutung des Persönlichkeitsrechts aus Art. 7 und 8 GrCh dahingehend, dass dieses gegenüber dem Informationsinteresse grundsätzlich überwiege, eine Löschung des beanstandeten Suchergebnisses somit die Regel, ihre Ablehnung hingegen nur in Ausnahmefällen unter besonderem Begründungsaufwand anzunehmen sei. Mit Blick auf die unmittelbar zu berücksichtigende Meinungsfreiheit der Inhalteanbieter, die durch die Ausblendung von Suchergebnissen beschränkt wird, ist laut BGH stattdessen eine gleichberechtigte Abwägung vorzunehmen. Das Gericht folgt damit der Linie des BVerfG. Ob der EuGH diese Feststellung unbeanstandet lassen wird, bleibt jedoch abzuwarten. Schließlich beruhen dessen Aussagen auf der Auslegung von europäischem Primärrecht, die auch für deutsche Gerichte grundsätzlich bindend ist.

2. Verschärfte Prüfungspflichten für Suchmaschinenbetreiber

Hinsichtlich der ebenfalls zentralen Frage, in welchem Umfang Suchmaschinenbetreiber eingehende Löschungsbegehren auf ihre Rechtmäßigkeit zu prüfen haben, nimmt der BGH einen überraschenden Richtungswechsel vor. In einer Grundsatzentscheidung vor Inkrafttreten der DSGVO hatte er Suchmaschinenbetreiber noch einem sehr großzügigen Haftungsregime unterstellt. Unter Verweis auf ihre essentielle Bedeutung für die Nutzbarmachung des Internets und ihrer lediglich informationsvermittelnden Rolle lehnte der BGH eine vertiefte Prüfpflicht von Löschanfragen ab. Da eine umfassende Rechtmäßigkeitsprüfung die Funktionsfähigkeit der Suchmaschinen generell in Frage stellen würde, sollten diese erst dann „spezifische Verhaltenspflichten“, also weitergehende Prüf- und Löschpflichten treffen, wenn sie durch einen konkreten Hinweis Kenntnis von einer offensichtlichen und auf den ersten Blick klar erkennbaren Rechtsverletzung erlangt hätten (vgl. BGH, Urt. v. 27.02.2018 - VI ZR 489/16). Angesichts des Gebots einer gleichberechtigten Grundrechtsabwägung spricht der BGH den Suchmaschinenbetreibern dieses Privileg nun unter ausdrücklicher Aufgabe seiner bisherigen Rechtsprechung ab. Google & Co. müssen also im Falle eines Löschungsantrags das beanstandete Suchergebnis künftig stets umfassend daraufhin prüfen, ob es auf Inhalte verweist, an deren unbeschränkter Auffindbarkeit kein schützenswertes Interesse mehr besteht. Auf eine vermeintlich unklare Rechtslage kann sich der Suchmaschinenbetreiber als Ablehnungsgrund nicht mehr berufen.

Mit dieser wegweisenden Neupositionierung stärkt der BGH das Persönlichkeitsrecht der betroffenen Antragsteller erheblich. Während Google ausweislich seines sog. Transparenzberichts wohl bereits eine relativ differenzierte Abwägung vornimmt, dürfte das Urteil jedenfalls für kleinere Suchmaschinen einen erheblichen Mehraufwand bei der Bearbeitung von Löschgesuchen zur Folge haben. Die erhöhten Prüfungsanforderungen sind dennoch zu begrüßen, liefe das „Recht auf Vergessenwerden“ angesichts der häufig vielschichtigen und komplexen Fallgestaltungen andernfalls allzu oft leer. Den Suchmaschinenbetreibern insoweit eine umfassende Abwägungsverantwortung zu übertragen, entspricht außerdem der datenschutzrechtlichen Grundentscheidung, primär die datenverarbeitende Stelle zum Adressaten des Löschanspruchs zu machen.

II. Verfahren VI ZR 476/18 – Entscheidung vom 27.07.2020

Mit vergleichsweise speziellen Abwägungsfragen hatte sich der BGH in einem zweiten Rechtsstreit auseinanderzusetzen. Hier wehrten die Kläger gegen die Ergebnisanzeige zu im Jahr 2015 veröffentlichten Artikeln einer Website, die sich kritisch mit dem Anlagemodell mehrerer Gesellschaften beschäftigten, für welche die Kläger tätig waren und auf denen teilweise Fotos der Kläger veröffentlicht waren. Diese Fotos wurden neben den Suchergebnissen als Vorschaubilder angezeigt, deren Löschung die Kläger ebenfalls begehrten. Einer Ausblendung der Links in der Ergebnisliste verweigerte Google u.a. mit der Begründung, die Wahrheit der aufgestellten Behauptungen nicht beurteilen zu können.

Als entscheidungserheblich befand der BGH hier insbesondere, ob dem Betroffenen mit Blick auf sein Persönlichkeitsrecht zuzumuten ist, in Fällen, in denen der Löschungsanspruch gegen den Suchmaschinenbetreiber allein von der zutreffenden Darstellung des verlinkten Inhalts abhängt, die Wahrheit des Beitrags vorläufig, etwa im Rahmen einstweiligen Rechtsschutzes, klären zu lassen. Mit Blick auf die angegriffenen Vorschaubilder kommt es nach Ansicht des BGH zudem auf die Frage an, ob bei der Abwägungsentscheidung auch der Kontext des verlinkten Beitrags zu berücksichtigen ist, in dem das Bild veröffentlicht wurde, obwohl dieser Kontext in der Ergebnisanzeige nicht ersichtlich ist. Da beide Fragen durch die Auslegung von Art. 17 DSGVO bzw. Art. 7 und 8 GrCh, d.h. nach europäischem Recht zu beantworten sind, legte sie der BGH dem EuGH zur Vorabentscheidung vor. Eine weitere richterrechtliche Konkretisierung des „Rechts auf Vergessenwerden“ wird daher nicht lange auf sich warten lassen.

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