Netzsperren im Spannungsfeld zwischen europäischem Herkunftslandprinzip und nationalem Jugendschutz: VG Düsseldorf setzt neue Maßstäbe
In den vergangenen Monaten haben deutsche Gerichte mehrere Sperranordnungen gegen Erotikplattformen bestätigt. Grund dafür war, dass die jeweiligen Anbieter keine verlässlichen Altersverifikationssysteme auf ihren Plattformen implementiert hatten. Ohne solche Systeme können Minderjährige ungehindert auf die Inhalte zugreifen, was nach Ansicht der Gerichte einen Verstoß gegen die gesetzlichen Vorgaben zum Schutz von Kindern und Jugendlichen nach dem Jugendmedienstaatsvertrag und Jugendschutzgesetz darstellt (u. a. VG München Beschl. v. 05.06.2025 – M 17 S 25.478; OVG Koblenz, Beschl. v. 30.7.2025 – 2 B 10575/25.OVG und OVG Koblenz, Beschl. v. 30.07.2022 – B 10576/25.OVG).
Eine aktuelle Entscheidung des Verwaltungsgerichts Düsseldorf markiert jedoch einen deutlichen Kurswechsel: In einem Eilverfahren entschied das Gericht nunmehr, dass die Landesanstalt für Medien NRW die Internetprovider Telekom und Vodafone vorerst nicht verpflichten darf, die Pornoplattformen YouPorn und Pornhub des in Zypern ansässigen Betreibers Aylo zu sperren (Pressemitteilung v. 19.11.2025, hier abrufbar). Maßgeblich hierfür seien europarechtliche Bedenken. Das Gericht sieht die nationale Anwendung der deutschen Jugendschutzvorgaben gegenüber einem im EU-Ausland ansässigen Anbieter kritisch: Entscheidend sei das in der E-Commerce-Richtlinie (RL 2000/31/EG) und AVMD-Richtlinie (RL 2010/13/EU) verankerte europäische Herkunftslandprinzip, nach dem ein Unternehmen mit Sitz in einem beliebigen EU-Mitgliedstaat Dienstleistungen in der gesamten Union anbieten kann, aber nur an die Rechtsvorschriften des Mitgliedstaates gebunden sei, in dem es seinen Sitz hat. Nationale Eingriffe seien nur in engen Ausnahmefällen zulässig; deren Voraussetzungen sieht das Gericht im aktuellen Fall jedoch offensichtlich nicht als erfüllt an.
Die Entscheidung reiht sich in eine Reihe jüngerer Gerichtsverfahren ein, in denen die unionsrechtliche Dimension der Plattform- und Medienregulierung eine entscheidende Rolle spielt. So ist beispielsweise im Fall von Spotify vor dem Verwaltungsgericht Berlin streitig, ob die im Medienstaatsvertrag geregelte Pflicht zu Transparenzangaben auf den Musikstreaming-Dienst Anwendung findet, da sie nach Ansicht der Plattform gegen den Digital Services Act und die E-Commerce-Richtlinie verstoße. Das Verwaltungsgericht Berlin hat die Frage zwischenzeitlich dem EuGH zur Entscheidung vorgelegt (VG Berlin, Beschl. v. 17.12.2024 – VG 32 L 221/24). Eine ähnliche unionsrechtliche Orientierung zeigt auch das EuGH-Urteil im Google-Verfahren (EuGH Urt. v. 9.11.2023 – C-376/22 = GRUR 2024, 65). Dort bestätigte der EuGH die Auffassung der Plattformen, dass ein EU-Mitgliedstaat einem in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Anbieter von Kommunikationsplattformen keine generell-abstrakten Pflichten auferlegen dürfe. Ziel der E-Commerce-Richtlinie sei es, einen rechtlichen Rahmen zu schaffen, der den freien Verkehr von Diensten der Informationsgesellschaft zwischen den Mitgliedstaaten sicherstelle. Durch das Prinzip der Regulierung im Herkunftsmitgliedstaat sollen die Hemmnisse beseitigt werden, die sich aus den unterschiedlichen nationalen Regelungen ergeben. Zwar können andere Mitgliedstaaten unter engen Voraussetzungen Maßnahmen ergreifen, um u. a. die öffentliche Ordnung und Sicherheit oder den Verbraucher- und Jugendschutz zu gewährleisten. Diese Maßnahmen dürften jedoch nicht allgemein-abstrakt ausgestaltet sein, also nicht unterschiedslos für alle Anbieter einer Kategorie von Diensten der Informationsgesellschaft gelten, unabhängig davon, ob sie im betreffenden Mitgliedstaat niedergelassen sind oder in einem anderen EU-Staat ihren Sitz haben.
Das Grundmuster aller Entscheidungen ist somit ähnlich: Sobald grenzüberschreitende Dienste betroffen sind, stellt sich die zentrale Frage nach der unionalen Zuständigkeit – mit erheblichen Auswirkungen auf nationale Regulierungsmaßnahmen.
Für Unternehmen, die digitale Inhalte bereitstellen oder als Access-Provider tätig sind, macht diese Entwicklung deutlich, dass Sperrverfügungen und sonstige Eingriffe nicht automatisch Bestand haben. Vielmehr sollte immer zunächst geprüft werden, ob das nationale Recht überhaupt Anwendung findet. Die genannten Verfahren unterstreichen, dass sich regulatorische Maßnahmen zunehmend im Spannungsfeld von nationalem Medienrecht und europäischer Dienstleistungsfreiheit bewegen. Für viele Unternehmen lohnt sich daher eine frühzeitige rechtliche Bewertung, bevor nachteilige technische, regulatorische oder wirtschaftliche Folgen eintreten.
Was Unternehmen jetzt beachten sollten:
- Unionsrechtliche Rahmenbedingungen prüfen: Vor allem das Herkunftslandprinzip kann nationalen Sperranordnungen Grenzen setzen.
- Regulatorische Maßnahmen sorgfältig bewerten: Sperren und andere Eingriffe sind nicht automatisch durchsetzbar.
- Strategische Nutzung von Eilverfahren: Solche Verfahren verschaffen zeitlichen Spielraum und können Behörden dazu zwingen, ihre Maßnahmen unionsrechtskonform zu prüfen.
- Grenzüberschreitende Risiken bedenken: Anbieter digitaler Dienste sollten dennoch nationale und unionale Vorgaben im Zusammenspiel betrachten, insbesondere im Bereich Jugendschutz, Plattformaufsicht und Netzsperren, um etwaige Risiken zu erkennen und zu bewerten.
Eine frühzeitige rechtliche Analyse kann dabei entscheidend sein, um Risiken zu minimieren und Handlungsspielräume effektiv zu nutzen. Als Kanzlei verfügen wir über umfangreiche Erfahrung in diesem Bereich und beraten Sie gerne ganzheitlich zu regulatorischen, prozessualen und unionsrechtlichen Fragestellungen rund um digitale Dienste und Plattformregulierung.
Bestens
informiert
Jetzt unseren Newsletter abonnieren, um zu aktuellen Entwicklungen auf dem Laufenden zu bleiben.
Jetzt anmelden









