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Neue Spielregeln für Massenentlassungen?

10.02.2022

Mit einer Massenentlassung verbundene Reorganisationen bzw. Restrukturierungen sind wegen der erforderlichen Massenentlassungsanzeige bei der Agentur für Arbeit häufig fehleranfällig. Die Anforderungen an eine ordnungsgemäße Massenentlassungsanzeige sind durch die Rechtsprechung in einer Vielzahl von Entscheidungen immer weiter konkretisiert und verschärft worden – trotzdem sind längst nicht alle Rechtsfragen geklärt. Die Rechtsprechung ist leider immer wieder für „Überraschungen“ gut. Insbesondere betrifft dies die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen ein Fehler im Verfahren der Massenentlassungsanzeige die Unwirksamkeit der Kündigung nach sich zieht. Die Massenentlassungsanzeige bleibt ein „Dauerbrenner“ vor den Gerichten. Zwei jüngere Beispiele aus der Rechtsprechung geben Anlass, die neuesten Entwicklungen zu beleuchten. 

1. Hintergrund und gesetzliche Regelung

§ 17 Kündigungsschutzgesetz (KSchG) verpflichtet Arbeitgeber dazu, gegenüber der Agentur für Arbeit eine sog. Massenentlassungsanzeige zu erstatten, bevor innerhalb von 30 Kalendertagen eine bestimmte Zahl von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern (nachfolgend zur sprachlichen Vereinfachung „Mitarbeiter“) entlassen wird. Entlassungen in diesem Sinne sind entweder Arbeitgeberkündigungen oder einvernehmliche Beendigungen von Arbeitsverhältnissen auf Veranlassung des Arbeitgebers. Die Schwellenwerte, ab denen eine Massenentlassungsanzeige zu erstatten ist, sind abhängig von der Zahl der regelmäßig im Betrieb beschäftigten Mitarbeiter:

Betriebsgröße Maßgeblicher Schwellenwert
Mehr als 20 und weniger als 60 Entlassung von mehr als fünf Mitarbeitern 
Mindestens 60 und weniger als 500 Mitarbeiter Entlassung von 10% der regelmäßig beschäftigten Mitarbeiter oder von mehr als 25 Mitarbeitern 
Mindestens 500 Mitarbeiter  Entlassung von mindestens 30 Mitarbeitern

 

Verfügt der Betrieb, in dem die Entlassungen erfolgen sollen, über einen Betriebsrat, ist vor Erstattung der Massenentlassungsanzeige gegenüber der Agentur für Arbeit zudem das sog. Konsultationsverfahren mit dem Betriebsrat durchzuführen (§ 17 Abs. 2 KSchG). Der Arbeitgeber hat den Betriebsrat im Rahmen des Konsultationsverfahrens zunächst umfassend schriftlich zu unterrichten. Das Konsultationsverfahren endet in der Regel mit einer Stellungnahme des Betriebsrats. Der Arbeitgeber hat der Agentur für Arbeit sowohl eine Abschrift der initialen Unterrichtung des Betriebsrats (§ 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG) als auch die Stellungnahme des Betriebsrats (§ 17 Abs. 3 Satz 2 KSchG) zuzuleiten. Die Abschrift der Unterrichtung muss insoweit bereits vor Erstattung der eigentlichen Massenentlassungszeige an die Agentur für Arbeit weitergeleitet werden, nämlich parallel zu der Übermittlung an den Betriebsrat; die abschließende Stellungnahme des Betriebsrats zu den beabsichtigten Entlassungen wiederum muss erst der eigentlichen Massenentlassungsanzeige beigefügt werden.


Für die gegenüber der Agentur für Arbeit zu erstattende Massenentlassungsanzeige sieht die gesetzliche Regelung in § 17 Abs. 3 Satz 4 KSchG vor, dass der Arbeitgeber folgende Angaben zu machen hat (sog. „Muss-Angaben“):

  • Name des Arbeitgebers sowie die Art und den Sitz des Betriebs,
     
  • Gründe für die geplanten Entlassungen, 

  • Zahl und Berufsgruppen der zu entlassenden und der in der Regel im Betrieb beschäftigten Mitarbeiter,

  • Zeitraum, in dem die Entlassungen vorgenommen werden sollen, sowie 

  • die Kriterien, die für die Auswahl der zu entlassenden Mitarbeiter vorgesehen sind.

Darüber hinaus sieht § 17 Abs. 3 Satz 5 KSchG vor, dass die Massenentlassungsanzeige im Einvernehmen mit dem Betriebsrat Angaben über das Geschlecht, das Alter, den Beruf und die Staatsangehörigkeit der zu entlassenden Mitarbeiter enthalten soll (sog. „Soll-Angaben“).

Fehlt es an einer (ordnungsgemäßen) Massenentlassungsanzeige, sind Kündigungen, die gleichwohl ausgesprochen wurden, in der Regel schon allein aus diesem Grund unwirksam. 

Grundlage der deutschen Regelungen zur Massenentlassungsanzeige in § 17 KSchG ist die europäische Richtlinie 98/59/EG vom 20. Juli 1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen (sog. Massenentlassungsrichtlinie, auch „MERL“). Im Spannungsfeld zwischen den Vorgaben der MERL einerseits und den nationalen gesetzlichen Regelungen im Kündigungsschutzgesetz andererseits sind die Einzelheiten der Anforderungen an ordnungsgemäße Massenentlassungsanzeigen und die Folgen einer nicht ordnungsgemäß erstatteten Massenentlassungsanzeige weiterhin nicht abschließend geklärt. Für Arbeitgeber birgt dies nach wie vor erhebliche Risiken, wie zwei Fälle belegen, mit denen sich die Rechtsprechung kürzlich befasst hat:

2. Zwingender Charakter der Soll-Angaben?

Das Hessische Landesarbeitsgericht (Urteil vom 25. Juni 2021 – 14 Sa 1225/20) hatte einen Fall zu entscheiden, in dem sich die Klägerin gegen eine betriebsbedingte Beendigungskündigung, die im Rahmen einer Massenentlassung ausgesprochen worden war, wandte. Die Arbeitgeberin hatte im Vorfeld eine Massenentlassungsanzeige erstattet, dabei allerdings nicht die Soll-Angaben hinsichtlich des Geschlechts, des Alters, des Berufs und der Staatsangehörigkeit der betroffenen Mitarbeiter gemacht. Von der Agentur für Arbeit wurde dies indes nicht beanstandet.

Sowohl das Arbeitsgericht Frankfurt am Main als auch das Landesarbeitsgericht waren – entgegen der bisher ganz herrschenden Meinung – der Auffassung, dass die Kündigung wegen des Fehlens der „Soll-Angaben“ unwirksam sei. Dies ergebe sich aus einer an der MERL ausgerichteten richtlinienkonformen Auslegung des § 17 Abs. 3 Satz 5 KSchG:

  • Die MERL verlange, dass in der Massenentlassungsanzeige alle zweckdienlichen Angaben enthalten sein müssen, ohne dass dabei zwischen „Muss“ und „Soll“-Angaben differenziert werde.

  • Bei den Angaben zu Geschlecht, Alter, Beruf und Staatsangehörigkeit handele es sich um zweckdienliche Angaben, da die zuständige Behörde ihre Vermittlungsbemühungen in Kenntnis dieser Angaben gezielter ausrichten könne und sich damit auf die Entlassung einer größeren Zahl von Arbeitnehmern besser einstellen könne. Dies entspreche dem Zweck der Massenentlassungsanzeige.

  • Um der MERL zu voller Wirksamkeit zu verhelfen, sei es daher notwendig, an das Fehlen der Angaben zu Geschlecht, Alter, Beruf und Staatsangehörigkeit die Folge der Unwirksamkeit einer gleichwohl ausgesprochenen Kündigung zu knüpfen (Gedanke des „effet utile“).

Die Entscheidung ist nicht rechtskräftig; die Arbeitgeberin hat Revision zum Bundesarbeitsgericht eingelegt (Az. 2 AZR 424/21). Eine Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts steht noch aus.

3. Folgen einer unterlassenen Zuleitung der Betriebsratsunterrichtung an die Agentur für Arbeit

In einem weiteren Verfahren, das sich mit der Ordnungsgemäßheit einer Massenentlassungsanzeige befasste, wandte sich der Kläger ebenfalls gegen eine betriebsbedingte Kündigung seines Arbeitsverhältnisses. Die Arbeitgeberin hatte eine Massenentlassungsanzeige erstattet, der Agentur für Arbeit aber entgegen § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG nicht vorab eine Abschrift der Unterrichtung des Betriebsrats, mit der das Konsultationsverfahren nach § 17 Abs. 2 KSchG beginnt, zugeleitet. 

Das Landesarbeitsgericht Niedersachsen (Urteil vom 24.02.2021 – 17 Sa 890/20) gab der Arbeitgeberin Recht und erachtete die Kündigung für wirksam. Insbesondere, so das Landesarbeitsgericht, führe der Umstand, dass der Agentur für Arbeit nicht rechtzeitig eine Abschrift der Unterrichtung des Betriebsrats zugeleitet worden sei, nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung. Es sei nicht erkennbar, dass die Zuleitungspflicht den individuellen Arbeitnehmer schütze, da bei Einleitung des Konsultationsverfahrens noch nicht feststehe, wer von der Kündigung betroffen sei. Dies sei vielmehr erst im Rahmen des Konsultationsverfahrens zu erörtern. Die Agentur für Arbeit könne ihre Vermittlungsbemühungen damit gerade nicht nach dem Inhalt der Betriebsratsunterrichtung, mit der das Konsultationsverfahren überhaupt erst eingeleitet werde, ausrichten. 

Gegen diese Entscheidung legte der klagende Arbeitnehmer Revision zum Bundesarbeitsgericht ein. Das Bundesarbeitsgericht wiederum hat mit Beschluss vom 27. Januar 2022 (6 AZR 155/21 (A)) wegen der europarechtlichen Dimension der streitgegenständlichen Rechtsfrage den Europäischen Gerichtshof angerufen, um zu klären, ob allein die fehlende Zuleitung der Betriebsratsunterrichtung an die Agentur für Arbeit die Unwirksamkeit einer Kündigung zur Folge hat (Pressemitteilung). Bis zur Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs ist das Verfahren vor dem Bundesarbeitsgericht ausgesetzt.

4. Fazit und Praxishinweise

Die Entscheidungen zeigen, dass die Rechtsfragen im Zusammenhang mit (vermeintlichen) Fehlern, die Arbeitgebern im Rahmen der Anzeige und Durchführung massenentlassungsanzeigepflichtiger Entlassungen unterlaufen können, längst nicht abschließend geklärt sind. 

Wichtig für die betriebliche Praxis ist, dass auf die Formulare und Hinweise der Agentur für Arbeit zur Erstattung von Massenentlassungsanzeigen kein Verlass ist. 

  • In der Anlage zu Feld 34 des von der Agentur für Arbeit für die Erstattung von Massenentlassungen vorgesehenen Formulars, in die die sog. Soll-Angaben aufzunehmen sind, heißt es explizit, dass die „Angaben für die Arbeitsvermittlung“ freiwillig seien und „auch später“ nachgereicht werden können. 

  • Nach dem Urteil des Hessischen Landesarbeitsgerichts sollen sich Arbeitgeber hierauf indes nicht verlassen dürfen. Es komme nicht auf die Formulare der Agentur für Arbeit an, sondern allein darauf, ob die erforderlichen Angaben tatsächlich gemacht wurden. Letzteres richte sich aufgrund der MERL allein nach dem Unionsrecht. Ein Vertrauenstatbestand könne daher auch allenfalls durch den Europäischen Gerichtshof geschaffen werden, nicht aber durch die von der Agentur für Arbeit zur Verfügung gestellten Formulare. 

  • Ein Bescheid oder eine Auskunft der Agentur für Arbeit darüber, dass die Massenentlassungsanzeige ordnungsgemäß erstattet wurde, bindet die Arbeitsgerichte überdies nicht. Sie sind daher nicht geeignet, die mit der Massenentlassungsanzeige verbundenen Risiken zu begrenzen oder auszuschließen.

Es bleibt abzuwarten, wie sich das Bundesarbeitsgericht zum Fehlen von „Soll“-Angaben positioniert. Denkbar ist auch insoweit eine Anrufung des Europäischen Gerichtshofs zur Frage, ob eine Differenzierung zwischen „Soll“ und „Muss“ Angaben nach der MERL zulässig ist. Bis eine endgültige Klärung durch das Bundesarbeitsgericht bzw. den Europäischen Gerichtshof erfolgt ist, sollten Massenentlassungsanzeigen jedenfalls vorsorglich alle Angaben beinhalten, unabhängig davon, ob diese im Gesetz als „Soll“- oder „Muss“-Angaben ausgestaltet sind. 

Eine Abschrift der im Rahmen des Konsultationsverfahrens dem Betriebsrat zur Verfügung gestellten Unterrichtung sowie die Stellungnahme des Betriebsrats sind – bis zur einer Klärung durch den Europäischen Gerichtshof und das Bundesarbeitsgericht – abweichend von der bislang gängigen Praxis ebenfalls jeweils zu den gesetzlich festgelegten Zeitpunkten bei der Agentur für Arbeit einzureichen.

Insgesamt sind Massenentlassungen und die entsprechenden Anzeigen bei der Agenturen für Arbeit weiterhin sehr fehleranfällig und sollten angesichts der drohenden Konsequenzen, nämlich insbesondere der Unwirksamkeit sämtlicher im Rahmen der Massenentlassung ausgesprochener Kündigungen, gut vorbereitet sein. Dies kann es auch erfordern, im Vorfeld etwaig fehlende Daten bei den Beschäftigten abzufragen bzw. Prozesse, insbesondere Personalfragebögen, anzupassen oder erstmalig einzuführen, um eine verlässliche Datengrundlage zu haben. Das insoweit ggf. einschlägige Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats muss dabei im Blick behalten werden (§ 94 BetrVG).

Arbeitsrecht

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