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(Vorübergehende) Arbeits­gerichts­barkeit 2.0 - Covid-19 als Motor der Digitalisierung für die Arbeits­gerichts­barkeit?

20.04.2020

(Vorübergehende) Arbeitsgerichtsbarkeit 2.0 - Covid-19 als Motor der Digitalisierung für die Arbeitsgerichtsbarkeit?

Covid-19 betrifft alle Bereiche der Gesellschaft und macht auch vor gerichtlichen Verfahren nicht halt. Im Gegenteil: Termine für mündliche Verhandlungen wurden flächendeckend wegen der Corona-Krise aufgehoben. Dies führt gerade in arbeits- und sozialgerichtlichen Verfahren, denen oftmals eine Dringlichkeit innewohnt, zu erheblichen Nachteilen für die am Verfahren beteiligten Parteien, z.B. Arbeitgeber und Arbeitnehmer in einem Kündigungsschutzverfahren. Hier könnte der Einsatz von modernen Kommunikationsmitteln (z.B. Videokonferenzen) Abhilfe schaffen, was derzeit rechtlich nur sehr eingeschränkt zulässig ist. Eine rein virtuelle Gerichtsverhandlung ist bislang nicht möglich.

Diese Problematik greift der Referentenentwurf des Bundesarbeitsministeriums für Arbeit und Soziales vom 09.04.2020 (COVID-19 ArbGG/SGG-AnpassungsG) für den Fall einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite im Sinne des § 5 des Infektionsschutzgesetzes auf, wie sie der Bundestag am 25.03.2020 festgestellt hat. Der Referentenentwurf enthält einen ersten Vorschlag für eine - zeitlich befristete - Arbeitsgerichtsbarkeit 2.0.

Bisherige Rechtslage

Arbeitsgerichtliche Verfahren sind bisher dadurch geprägt, dass mündliche Verhandlungen unter physischer Anwesenheit aller am Verfahren Beteiligten stattfinden. Bislang besteht nach § 46 Abs. 2 ArbGG i.V.m. § 128a Abs. 2 ZPO lediglich die Möglichkeit, dass sich die Parteien - wenn sie damit einverstanden sind -  an einem anderen Ort als dem Gerichtssaal aufhalten und per Videokonferenz zugeschaltet werden. 

Zudem gilt in arbeitsgerichtlichen Verfahren der Grundsatz der Mündlichkeit, dessen besonderer Ausfluss die nach § 54 Abs. 1 S. 1 ArbGG dem schriftlichen Verfahren vorgeschaltete Güteverhandlung ist; die Anordnung eines schriftlichen Vorverfahrens nach § 276 ZPO ist nicht möglich. Bei Kündigungsschutzverfahren, die regelmäßig besonders eilbedürftig sind, soll die Güteverhandlung nach § 61a Abs. 2 ArbGG innerhalb von zwei Wochen nach Klageerhebung erfolgen (Besondere Prozessförderungspflicht). Erfahrungsgemäß wird die weit überwiegende Anzahl der Verfahren bereits in der Güteverhandlung durch einen gerichtlichen Vergleich erledigt. 

Hinzu kommt, dass in allen gerichtlichen Verfahren nach § 169 Abs. 1 S. 1 GVG (§ 52 Abs. 1 S. 1 ArbGG) der Grundsatz der Öffentlichkeit gilt, d.h. jeder interessierte Bürger - insbesondere auch ein Journalist - darf der mündlichen Verhandlung im Gerichtssaal beiwohnen. Ein Ausschluss der Öffentlichkeit ist bislang nur in eng begrenzten Ausnahmenfälle zulässig, z.B. bei Gefährdung der Staatssicherheit, Schutz von Zeugen, einer drohenden Verletzung von Privatgeheimnissen oder dem Schutz von Minderjährigen.

Geplanten Änderungen im arbeitsgerichtlichen Verfahren

Die aktuelle Situation führt insbesondere in arbeitsgerichtlichen Verfahren dazu, dass der effektive Rechtsschutz von Arbeitnehmern und Arbeitgebern nicht mehr vollumfänglich gewährleistet ist, da ohne eine mündliche Verhandlung keine gerichtliche Entscheidung ergehen kann. Hier versucht der Referentenentwurf durch einen neu einzuführenden § 114 ArbGG Abhilfe zu schaffen. Er lautet:

㤠114
Infektionsschutz bei epidemischen Lagen von nationaler Tragweite

(1) Abweichend von § 128a der Zivilprozessordnung können die ehrenamtlichen Richter bei Vorliegen einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite nach § 5 des Infektionsschutzgesetzes an einer mündlichen Verhandlung von einem anderen Ort aus beiwohnen. Die Verhandlung wird zeitgleich in Bild und Ton auch an diesen Ort übertragen. Gleiches gilt für die Beratung und Abstimmung. Die an der Beratung und Abstimmung Teilnehmenden haben durch organisatorische Maßnahmen die Wahrung des Beratungsgeheimnisses sicherzustellen; die entsprechende Feststellung ist zu protokollieren.

(2) Die Gerichte für Arbeitssachen können abweichend von § 128a der Zivilprozessordnung bei Vorliegen einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite nach § 5 des Infektionsschutzgesetzes anordnen, dass die Parteien, ihre Bevollmächtigten und Beistände sowie Zeugen und Sachverständige an einer mündlichen Verhandlung von einem anderen Ort aus teilnehmen, sofern diese die technischen Voraussetzungen für die Bild-und Tonübertragung in zumutbarer Weise vorhalten können. Die Verhandlung wird zeitgleich in Bild und Ton auch an diesen Ort übertragen. Gegen Entscheidungen nach Satz 1 findet die sofortige Beschwerde statt. Sie ist binnen einer Notfrist von einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung einzulegen.

(3) Die Gerichte für Arbeitssachen können die Öffentlichkeit abweichend von § 52 für die Verhandlung vor dem erkennenden Gericht ausschließen, wenn infolge einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite nach § 5 des Infektionsschutzgesetzes der erforderliche Gesundheitsschutz nicht anders zu gewährleisten ist.

(4) Entscheidet das Landesarbeitsgericht bei Vorliegen einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite nach § 5 des Infektionsschutzgesetzes nach § 128 Absatz 2 der Zivilprozessordnung ohne mündliche Verhandlung, wird die Verkündung durch die Zustellung des Urteils ersetzt.“

(5) Abweichend von § 128 Absatz 2 Satz 1 der Zivilprozessordnung kann das Bundesarbeitsgericht bei Vorliegen einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite nach § 5 des Infektionsschutzgesetzes nach vorheriger Anhörung auch ohne Zustimmung der Parteien eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung treffen. Es bestimmt alsbald den Zeitpunkt, bis zu dem Schriftsätze eingereicht werden können. Entscheidet das Bundesarbeitsgericht bei Vorliegen einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite nach § 5 des Infektionsschutzgesetzes ohne mündliche Verhandlung, wird die Verkündung durch die Zustellung des Urteils ersetzt.“

 

Ähnliche Regelungen sollen für die Sozialgerichtsbarkeit eingeführt werden. Im arbeitsgerichtlichen Verfahren stehen damit folgende Änderungen zur Diskussion:

Ehrenamtliche Richter im Home-Office

Ehrenamtliche Richter können einer mündlichen Verhandlung von einem anderen Ort aus beiwohnen. Die Beratung der ehrenamtlichen und des Vorsitzenden Richters erfolgt per Videokonferenz, wobei das Beratungsgeheimnis gewahrt bleiben muss. 

Zuschaltung der Parteien, Prozessbevollmächtigten und Zeugen

Zwar können auch bislang die Parteien und ihre Rechtsanwälte von einem anderen Ort als dem Gerichtssaal aus der mündlichen Verhandlung beiwohnen, jedoch nur, soweit sie damit einverstanden sind. Auf dieses Einverständnis soll es nicht mehr ankommen: Neu ist, dass das Arbeitsgericht anordnen kann, dass die Parteien, Prozessbevollmächtigten, Zeugen und Sachverständigen der Verhandlung von einem anderen Ort aus beiwohnen müssen, wenn sie die technischen Voraussetzung in zumutbarer Weise schaffen können. 

Ausschluss der Öffentlichkeit

Für teilweise überzogene Kritik an dem Referentenentwurf hat gesorgt, dass das Arbeitsgericht nach dem Entwurf die Öffentlichkeit ausschließen kann, wenn der Gesundheitsschutz nicht anders zu gewährleisten ist. Diese Kritik ist in der vorgebrachten Deutlichkeit nicht gerechtfertigt. Der Referentenentwurf sieht vor, dass der Ausschluss der Öffentlichkeit erst erfolgen darf, wenn andere Maßnahmen zum Gesundheitsschutz, z.B. Abstand der Stühle im Sitzungssaal, nicht möglich sind. Je nach Zuschnitt der Sitzungssaals werden Maßnahmen, die vor Ort ergriffen werden können, jedoch nicht ausreichen, um den Gesundheitsschutz zu gewährleisten. Demgegenüber steht der Anspruch der Parteien auf effektiven Rechtsschutz und die für Kündigungsschutzverfahren festgeschriebene Prozessförderungspflicht. 

Wirft man einen Blick auf den gerichtlichen Alltag bis zur Corona-Krise, dann gab es zwar täglich bei den Arbeitsgerichten eine Vielzahl von Verhandlungen, nicht jedoch eine breite Öffentlichkeit, die in den Sitzungssaal drängte. Daher wird der Ausschluss der Öffentlichkeit bei der überwiegenden Anzahl der Verfahren eher eine theoretische Befugnis des Arbeitsgerichts bleiben, als in der Praxis zur Anwendung zu kommen. Dann wird man aus diesen praktischen Gründen allerdings auch tatsächlich über eine Streichung dieses Teils des Entwurfs nachdenken können.

Verzicht auf mündliche Verhandlungen 

Ferner können Landesarbeitsgerichte mit Zustimmung der Parteien auch ohne mündliche Verhandlung entscheiden. Das Bundesarbeitsgericht wird sogar ohne Zustimmung der Parteien ohne mündliche Verhandlung entscheiden können.

Technische Umsetzbarkeit als unüberwindbare Hürde?

Fehlt es verbreitet an den technischen Voraussetzungen, liefe die geplante Gesetzesänderung allerdings in der Praxis ins Leere. Denn Voraussetzung ist, dass alle Beteiligten über einen leistungsfähigen Internetanschluss und einen Computer, ausgestattet mit Webcam, Mikrofon und Lautsprechen verfügen, um - sichere - Software zur Videotelefonie sinnvoll nutzen zu können. 

Diese Problematik berücksichtigt der Referentenentwurf mit Blick auf die Parteien, ihre Bevollmächtigten und Beistände sowie Zeugen und Sachverständige dadurch, dass er den Einsatz entsprechender Technik davon abhängig macht, dass der vorgenannte Personen-kreis „die technischen Voraussetzungen für die Bild-und Tonübertragung in zumutbarer Weise vorhalten [kann]“. Das wird insbesondere bei Privatpersonen im häuslichen Umfeld nicht immer der Fall sein.

  • Je nach Region dürfte es bereits an einem leistungsfähigen Internetanschluss fehlen. Das kommt in deutschen Haushalten durchaus noch vor - und zwar gerade in Zeiten, in denen die häuslichen Leitungen wie nie zuvor durch zahlreiche zuhause lebende und arbeitende Familien genutzt werden.
  • Auch kann man nicht bei allen Prozessbeteiligten voraussetzen, dass sie über die technischen Mittel verfügen und diese auch fachgerecht bedienen können. 
  • Dies kann man zwar von einem Anwalt erwarten. Denkbar ist daher, dass der Mandant und sein Anwalt von dessen Kanzlei aus - mit dem nötigen Sicherheitsabstand - der Verhandlung beiwohnen können. 

Was der Referentenentwurf stillschweigend voraussetzt, ist im Übrigen, dass die Arbeitsgerichte über die technischen Voraussetzungen verfügen und diese auch fachgerecht nutzen können. Dass jedes Arbeitsgericht in jedem Sitzungssaal über die technischen Möglichkeiten verfügt, die Verhandlung im Rahmen einer Videokonferenz abzuhalten und dass dies auch dann gilt, wenn alle Kammern und Senate gleichzeitig verhandeln, ist aber keineswegs ausgemacht. Offen ist auch, wie die Öffentlichkeit entsprechende Verhandlungen verfolgen soll. Nicht alle Gerichtssäle sind mit Leinwänden, Projektoren usw. ausgestattet.

Verlängerte Klagefrist bei Kündigungen

Neben den skizierten Änderungen des Prozessrechts ist geplant, dass Arbeitnehmer nach Erhalt des Kündigungsschreibens fünf statt wie bisher drei Wochen Zeit haben, Kündigungsschutzklage zu erheben. Dass dies erforderlich ist, muss angesichts von § 5 KSchG, der nachträgliche Klagezulassungen bei unverschuldeter Verhinderung rechtzeitiger Klage gestattet, bezweifelt werden.

Fazit

Theoretisch bestehen die technischen Möglichkeiten, virtuelle Gerichtssäle einzurichten, welche die Prozess- bzw. Verfahrensbeteiligten von jedem Ort der Welt aus betreten und der mündlichen Verhandlung beiwohnen können, bereits heute. Praktisch dürfte es jedoch oftmals an der technischen Ausstattung der Beteiligten und der Arbeitsgerichte scheitern. Daher bleibt abzuwarten, in welchem Umfang die Arbeitsgerichte von der Möglichkeit der erzwingbaren Verhandlung per Videokonferenz Gebrauch machen werden, sollte sie wirklich eingeführt werden. Zwar sind die Änderungen zunächst bis zum 31.12.2020 befristet, könnten jedoch Anstoß für eine breite Diskussion zur digitalen Justiz im 21. Jahrhundert sein. 

 

Arbeitsrecht
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