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Verschärfungen der EU-Fusions­kontrolle

17.01.2024

Zusammenschlüsse in neuen Märkten und digitalen Ökosystemen sind die maßgeblichen Treiber für bedeutsame Änderungen in der Durchsetzungspraxis der Europäischen Kommission, die von einem wegweisenden Urteil des Europäischen Gerichtshofs zum Prüfungsmaßstab und zum Beweisstandard flankiert werden.

Fusionskontrolle ohne originäre Zuständigkeit birgt Ungewissheit für Zusammenschlussbeteiligte

Zusammenschlussbeteiligte, insbesondere in der Pharma- und Digitalökonomie, sind der Gefahr ausgesetzt, dass die Europäische Kommission ihr Vorhaben prüft, obwohl das Vorhaben originär weder nach europäischem noch nach nationalem Recht der Fusionskontrolle unterliegt.

Bereits 2022 hatte das Gericht bestätigt, dass die Europäische Kommission auch solche Transaktionen prüfen darf, die nationale Kartellbehörden ohne eigene Zuständigkeit nach Brüssel verweisen (T-227/21 – Illumina v Commission). Die Europäische Kommission prüft bereits zwei weitere Zusammenschlüsse: Qualcomm/Autotalks und EEX/Nasdaq Power. Der Europäische Gerichtshof wird voraussichtlich in diesem Jahr über die Rechtmäßigkeit der Vorgehensweise entscheiden. Zudem ermöglicht der Europäische Gerichtshof mit Urteil vom 16.03.2023 (C‑449/21 – Towercast) nationalen Kartellbehörden die Prüfung von Transaktionen anhand der Missbrauchskontrolle gemäß Art. 102 AEUV, selbst wenn diese weder die nationalen Aufgreifschwellen erreichen noch an die Europäische Kommission verwiesen wurden.

Weniger strikte Beweiserfordernisse können Untersagungen vereinfachen

Mit seinem wegweisenden Urteil vom 13.07.2023 (C-376/20 P – Commission v CK Telecoms UK Investments) hat der Europäische Gerichtshof zwei grundsätzliche Fragen geklärt:

Um einen Zusammenschluss zu untersagen, muss die Europäische Kommission lediglich nachweisen, dass eine erhebliche Behinderung wirksamen Wettbewerbs „eher wahrscheinlich als unwahrscheinlich“ ist. Entgegen der Auffassung der Vorinstanz erfordert der Nachweis keine „ernsthafte Wahrscheinlichkeit“.

Für die materiell-rechtliche Beurteilung sind dabei mehrere Faktoren relevant, die allesamt nicht zu formalistisch verstanden werden sollten: Beispielsweise kann nicht allgemeingültig festgestellt werden, wie nahe sich Wettbewerber sein müssen, damit ein Zusammenschluss zu einer erheblichen Behinderung wirksamen Wettbewerbs führt; jedenfalls führt nicht nur ein Zusammenschluss „besonders naher“ Wettbewerber zu einer erheblichen Wettbewerbsbehinderung. Die Europäische Kommission muss insoweit auch nicht nachweisen, dass ein Unternehmen einen besonders aggressiven Wettbewerb betreibt – insbesondere nicht ausschließlich im Hinblick auf die Preissetzung – um als wichtige Wettbewerbskraft eingestuft zu werden (weitere Details in unserem Beitrag auf Noerr News).

Neue Schadenstheorie bezüglich digitaler Ökosysteme führt zu erster Untersagung

Mit ihrer Entscheidung vom 25.09.2023 hat die Europäische Kommission die Übernahme von eTraveli durch Booking untersagt (M.10615 – Booking/eTraveli) und sich – losgelöst von ihren eigenen Leitlinien – auf eine neue Schadenstheorie für digitale Ökosysteme gestützt. Booking hätte sein Ökosystem für Reisedienstleistungen erweitert, indem es das Online-Flugportal als einen wichtigen Kanal für die Kundenakquisition erworben hätte. Ohne die klassische Prüfung von Abschottungswirkungen stellte die Europäische Kommission eine Verstärkung einer beherrschenden Stellung von Booking auf dem Markt für Hotelportale im EWR fest. Die Europäische Kommission hält den neuen Ansatz für digitale Ökosysteme innerhalb des bestehenden „flexiblen“ Wettbewerbsrechts für notwendig und möglich.

 

 

Dieser Artikel ist Teil des Competition Outlook 2024. Alle Artikel des Competition Outlooks finden Sie hier.

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