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EuGH: Keine Europäische Fusions­kontrolle bei Gründung eines Gemein­schafts­unternehmens, wenn Voll­funktions­eigenschaft fehlt

19.09.2017

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat am 7. September 2017 im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens entschieden, dass die Gründung eines Gemeinschaftsunternehmens (GU) stets nur dann der europäischen Fusionskontrolle unterliegt, wenn es auf Dauer alle Funktionen einer selbstständigen wirtschaftlichen Einheit erfüllt, d.h. über die sog. Vollfunktionseigenschaft verfügt. Dies gilt unabhängig davon, ob das Gemeinschaftsunternehmen neu gegründet wird oder ein bereits operatives Unternehmen erst später dadurch zum GU wird, dass ein Wechsel von alleiniger zu gemeinsamer Kontrolle stattfindet (Rs. C-248/16). Die Praxis der Europäischen Kommission war bislang uneinheitlich: In ihren Entscheidungen finden sich sowohl Fälle, in denen beim Wechsel von alleiniger zu gemeinsamer Kontrolle die Vollfunktionseigenschaft geprüft wurde, als auch solche, in denen dieser Punkt nicht angesprochen und somit scheinbar auch nicht analysiert wurde. Das Urteil des EuGH bringt somit Klarheit in diesem Punkt.

Infolgedessen werden bestimmte Arten von Transaktionen nicht mehr der Fusionskontrolle durch die Europäische Kommission unterliegen. Da in einer Vielzahl von Mitgliedstaaten der Europäischen Union die Fusionskontrollvorschriften den europäischen Regelungen nachgebildet sind, kann das EuGH-Urteil zudem zur Folge haben, dass diese Transaktionen auch nicht mehr durch nationale Wettbewerbsbehörden geprüft werden können. Dieses Ergebnis klingt vorteilhafter, als es ist, denn das Gemeinschaftsunternehmen kann weiterhin einer Überprüfung am Maßstab des Kartellverbots unterzogen werden. Im Einzelnen:

Hintergrund des Falles

Die Teerag Asdag AG, eine 100%-Tochter der Porr AG, war Alleineigentümerin einer Asphaltmischanlage. Der in dieser Anlage hergestellte Asphalt wurde weit überwiegend durch die Teerag Asdag und andere Gesellschaften der Porr-Gruppe verwendet. Die Austria Asphalt GmbH & Co. OG beabsichtigte, sich an der Asphaltmischanlage zu beteiligen. Hierzu sollte eine neue Gesellschaft gegründet werden, deren Anteile zu jeweils 50% Teerag Asdag und Austria Asphalt halten und somit die gemeinsame Kontrolle über sie ausüben sollten. Dieses GU sollte die Anlage erwerben und betreiben. Ein Großteil der Asphaltproduktion sollte nach den Planungen der Parteien an die Muttergesellschaften bzw. die mit ihnen verbundenen Unternehmen geliefert werden.

Die geplante Transaktion meldeten die Parteien bei der österreichischen Bundeswettbewerbsbehörde an. Der Bundeskartellanwalt stellte beim Kartellgericht einen Prüfungsantrag, der jedoch abgelehnt wurde. Das Gericht war der Auffassung, dass die Transaktion als Erwerb der gemeinsamen Kontrolle i.S.d. europäischen Fusionskontrollverordnung (FKVO) zu werten sei. Da die Umsatzerlöse der beteiligten Unternehmen die Aufgreifschwellen der FKVO überschritten, sei die Europäische Kommission für die fusionskontrollrechtliche Prüfung der Transaktion zuständig, nicht dagegen die österreichischen Wettbewerbsbehörden. Austria Asphalt focht diesen Beschluss vor dem Obersten Gerichtshof mit der Begründung an, dass die europäische Fusionskontrolle keine Anwendung finde, weil das GU keine Vollfunktionseigenschaft aufweise. Dies sei jedoch zwingende Voraussetzung für die Anwendbarkeit der europäischen Fusionskontrolle (Art. 3 Abs. 4 FKVO). Der Obersten Gerichtshof ersuchte daraufhin den EuGH, die entsprechenden Vorschriften der FKVO auszulegen.

Entscheidung des EuGH

Der EuGH bestätigte die Rechtsauffassung von Austria Asphalt. Der Gerichtshof urteilte, dass bei einem Wechsel der Art der Kontrolle über ein bestehendes Unternehmen von alleiniger zu gemeinsamer Kontrolle nur dann der Tatbestand eines Zusammenschlusses im Sinne der FKVO erfüllt ist, wenn das entstehende Gemeinschaftsunternehmen auf Dauer alle Funktionen einer selbständigen wirtschaftlichen Einheit erfüllt. Die Vollfunktionseigenschaft sei ein notwendiges Prüfkriterium, mit dem sichergestellt wird, dass das Gemeinschaftsunternehmen über eine Marktpräsenz verfügt. Denn nach Auffassung des Gerichtshofes folge aus der Zielsetzung und Systematik der FKVO, dass eine Transaktion nur dann der europäischen Fusionskontrolle unterliegen solle, wenn sie sich dauerhaft auf die Marktstruktur auswirkt. Die Gründung eines Gemeinschaftsunternehmens, das die Vollfunktionskriterien – sei es bereits vor oder erst nach der Transaktion – nicht erfüllt, könne sich aber nicht auf Struktur des Marktes auswirken. Deshalb bedürfe es der präventiven Fusionskontrolle nicht.

Weiter stellte der Gerichtshof auch darauf ab, dass ein Verzicht auf die Prüfung, ob das zu bildende Gemeinschaftsunternehmen auf Dauer alle Funktionen einer selbständigen wirtschaftlichen Einheit aufweise, den Anwendungsbereich der EU-Kartell-Verordnung Nr. 1/2003 unzulässig einschränken würde. Liegt nämlich ein Zusammenschluss im Sinne der FKVO vor, kann die EU-Kartell-Verordnung grundsätzlich nicht auf die Transaktion und die an ihr beteiligten Unternehmen angewendet werden. Wenn also beim Wechsel von alleiniger zu gemeinsamer Kontrolle über ein bestehendes Unternehmen das Vorliegen der Vollfunktionseigenschaft nicht vorliegen müsste, würden auch solche Gemeinschaftsunternehmen dem Anwendungsbereich der EU-Kartell-Verordnung Nr. 1/2003 entzogen.

Bewertung und Folgen für die Praxis

Die Entscheidung des EuGH erscheint in sich stimmig. Zwar spricht Art. 3 Abs. 4 FKVO ausdrücklich nur davon, dass die „Gründung“ eines Gemeinschaftsunternehmens, das über die Vollfunktionseigenschaft verfügt, einen Zusammenschluss im Sinne der FKVO darstelle. Eine solche Gründung kann aber auch darin gesehen werden, dass bei einem bestehenden Unternehmen die Kontrolle durch einen Alleingesellschafter durch die gemeinsame Kontrolle von zwei oder mehr Gesellschaftern ersetzt wird. Zutreffend ist auch das Argument, dass die Anwendung der europäischen Fusionskontrolle auf die Bildung eines Gemeinschaftsunternehmens, das infolge der Transaktion nicht (mehr) über die Vollfunktionseigenschaft verfügen wird, den Anwendungsbereich der EU-Kartellverordnung Nr. 1/2003 einschränkt.

Aus Praktikersicht weist die Entscheidung des EuGH dennoch einen eher ambivalenten Charakter auf:

  1. Nunmehr wird bei jeder Transaktion, die bei einem bestehenden Unternehmen zum Wechsel von alleiniger zu gemeinsamer Kontrolle führt, zu prüfen sein, ob Kriterien für die Vollfunktionseigenschaft erfüllt sind. Dies ist der Fall, wenn das GU in operativer Hinsicht wirtschaftlich selbstständig ist, d.h. wenn es insbesondere

    – über ausreichende Ressourcen für eine eigenständige Marktpräsenz verfügt,

    – selbstständig am Markt auftritt und nicht bloß eine spezifische Funktion für die Muttergesellschaften erfüllt,

    – nicht nur Verkaufs-/Kaufbeziehungen zu den Muttergesellschaften unterhält, und

    – seine Wirtschaftstätigkeit auf Dauer angelegt ist.

    Das Vorliegen dieser Kriterien ist sodann in der Fusionskontrollanmeldung – zumindest kurz – darzustellen. Der zusätzliche Aufwand dürfte sich in Grenzen halten, denn diese Prüfung wurde auch bislang allenfalls in den Fällen unterlassen, in denen die Vollfunktionseigenschaft unzweifelhaft und offenkundig vorlag.

  2. Ergibt die vorstehende Prüfung, dass das GU jedenfalls nach der Transaktion keine Vollfunktionseigenschaft aufweisen wird, kann die europäische Fusionskontrolle nicht mehr eingreifen. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Transaktion fusionskontrollfrei umgesetzt werden könnte. Denn nunmehr wird zu prüfen sein, ob die Transaktion in einem oder mehreren EU-Mitgliedstaaten der Fusionskontrolle durch eine nationale Wettbewerbsbehörde unterliegt.

    Theoretisch könnte diese Prüfung kurz ausfallen: In vielen EU-Mitgliedstaaten sehen die nationalen Fusionskontrollregelungen die Gründung eines GU ebenfalls nur dann als einen Zusammenschluss an, wenn das GU über die Vollfunktionseigenschaft verfügt. Da sich die nationalen Gesetzgeber hierbei regelmäßig am europäischen Vorbild orientierten, läge der Schluss nahe, das aktuelle Urteil des EuGH auch auf die Auslegung der nationalen Vorschriften anzuwenden. Dies hieße, dass in diesen EU-Mitgliedstaaten die Gründung eines Nicht-Vollfunktions-Gemeinschaftsunternehmens ebenfalls nicht der (nationalen) Fusionskontrolle unterfiele. Diese Sichtweise klingt verlockend und sollte deshalb mit Vorsicht genossen werden. Es besteht nämlich keine europarechtliche Pflicht, nur Vollfunktions-GU der nationalen Fusionskontrolle zu unterwerfen. Die Auslegung des EuGH zu Art. 3 FKVO muss deshalb nicht gleichermaßen auch für die Auslegung des nationalen Rechts gelten; nationale Gerichte könnten hier durchaus zu einem anderen Ergebnis kommen.

    Solange in den einzelnen EU-Mitgliedstaaten nicht (höchst)richterlich geklärt wird, ob die dem Art. 3 Abs. 4 FKVO nachgebildeten Vorschriften des nationalen Fusionskontrollrechts ebenso auszulegen sind, wie es der EuGH für das europäische Recht vorgegeben hat, führt das Austria Asphalt-Urteil zu einer erheblichen Unsicherheit auf nationaler Ebene. Diese Unsicherheit könnte zwar reduziert werden, wenn die nationalen Wettbewerbsbehörden ihre Rechtsauffassung zu dieser Frage klarstellen. Eine solche Stellungnahme würde indes allenfalls die Behörde selbst binden, könnte aber in der Zukunft durch die nationalen Gerichte anders beurteilt werden.

  3. Weiter ist zu beachten, dass nicht alle EU-Mitgliedstaaten bei einem Gemeinschaftsunternehmen das Vorliegen der Vollfunktionseigenschaft als erforderlich ansehen. Sowohl in Deutschland als auch in Österreich, Polen und Großbritannien ist dies kein zwingendes Kriterium für die Anwendbarkeit der Fusionskontrolle. Überschreiten die an der Transaktion beteiligten Unternehmen (auch) die jeweiligen nationalen Aufgreifschwellen für die Fusionskontrolle, dürfen die Parteien der Transaktion somit in Zukunft nicht einem Fusionskontrollverfahren auf europäischer Ebene entgegensehen, sondern drei separaten nationalen Verfahren. Hinzu können weitere nationale Fusionskontrollverfahren treten, wenn – wie im vorstehenden Punkt ausgeführt – die nationalen Wettbewerbsbehörden und Gerichte zu einem anderen Ergebnis als der EuGH im Austria Asphalt-Urteil kommen.

    Ist eine Transaktion in drei oder mehr EU-Mitgliedstaaten fusionskontrollpflichtig, können die beteiligten Unternehmen zwar eine Verweisung des Falles an die Europäische Kommission beantragen. Ein solcher Verweisungsantrag ist allerdings ebenfalls zeit- und arbeitsaufwendig, so dass in jedem Einzelfall die damit einhergehenden Vor- und Nachteile gegeneinander abgewogen werden müssen.

  4. Schließlich ist noch auf die Anwendbarkeit der EU-Kartellverordnung Nr. 1/2003 einzugehen: Wäre auf die Gründung des GU (weiterhin) die europäische Fusionskontrolle anwendbar, wäre die Prüfung der kartellrechtlichen Zulässigkeit nach Art. 101 AEUV Teil des Fusionskontrollverfahrens (Art. 2 Abs. 4 FKVO). Mit der fusionskontrollrechtlichen Freigabe gäbe es somit auch „grünes Licht“ für die Koordination zwischen den Müttern des GU. Sind infolge des Urteils mangels Vollfunktionsfähigkeit die Vorschriften der europäischen Fusionskontrolle nicht anwendbar, können die Europäische Kommission bzw. nationale Wettbewerbsbehörden dennoch prüfen, ob die Gründung des GU zu einer Koordinierung des Wettbewerbsverhaltens der kontrollierenden Gesellschafter führt, die gegen das Kartellverbot verstößt (Art. 101 AEUV).

    Dies bewirkt gewisse (zusätzliche) Unsicherheiten für die Gründung des GU: Zunächst einmal liegt es – entsprechend dem System der Selbstveranlagung, das durch die EU-Kartellverordnung Nr. 1/2003 eingeführt wurde – in erster Linie in der Verantwortung der an der Transaktion beteiligten Parteien zu prüfen, ob es im Zusammenhang mit oder aufgrund der Tätigkeit des GU zu einem Kartellrechtsverstoß kommt. Fehleinschätzungen gehen zu ihren Lasten. Die EU-Kartellverordnung Nr. 1/2003 sieht auch kein Verfahren vor, nach dem die Parteien bei der Europäischen Kommission eine Prüfung ihres Vorhabens durchsetzen könnten. Selbst wenn die Parteien ihr Vorhaben der Europäischen Kommission vorstellen und diese daraufhin kein Verfahren einleitet, schließt dies eine spätere Untersuchung nicht aus. Hierzu kann es auch ggf. erst Jahre kommen. Ein Vertrauensschutz aufgrund eines jahrelang unterlassenen Eingreifens dürfte nur in engen Ausnahmefällen anerkannt werden.

    Die EU-Kartellverordnung Nr. 1/2003 ermächtigt zudem die Wettbewerbsbehörden und Gerichte der EU-Mitgliedstaaten, das europäische Kartellverbot im Einzelfall anzuwenden. Für die Gründung eines GU durch Wechsel von alleiniger zu gemeinsamer Kontrolle über ein bestehendes Unternehmen, das nicht über die Vollfunktionseigenschaft verfügt, bedeutet dies im Ergebnis, dass statt der Europäischen Kommission auch eine oder mehrere nationale Wettbewerbsbehörden einer kartellrechtliche Prüfung unterziehen könnten.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Entscheidung des EuGH eine bislang offene Rechtsfrage beantwortet, zugleich aber neue Rechtsfragen – insbesondere auf Ebene des nationalen Rechts der EU-Mitgliedstaaten – aufgeworfen hat. Die Rechtssicherheit hat sich dadurch nicht erhöht. Zudem kann die Entscheidung auch dazu führen, dass der Erwerb der gemeinsamen Kontrolle über ein bestehendes Unternehmen, das zumindest nach Umsetzung der Transaktion keine Vollfunktionseigenschaft aufweisen wird, einer Vielzahl von nationalen Anmeldepflichten unterliegen wird und ggf. auch noch separaten Verfahren, in denen die Vereinbarkeit mit dem Kartellverbot geprüft wird.

Mangels öffentlich verfügbarer empirischer Daten lässt sich nicht beurteilen, ob die vorstehenden Weiterungen aus dem Austria Asphalt-Urteil nur bei einigen wenigen Gemeinschaftsunternehmen relevant sein werden. Es wäre jedoch zu begrüßen, wenn die Europäische Kommission im Rahmen der laufenden Diskussionen über eine Novelle der EU-Fusionskontrollverordnung auch die möglichen negativen Folgen dieses EuGH-Urteils berücksichtigt und ggf. passende Abhilfemaßnahmen vorschlägt.

Das Urteil des EuGH vom 7. September 2017 in Sachen Austria Asphalt (Rs. C-248/16) ist unter diesem Link erreichbar.