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Noerr erringt Etappensieg für Berliner Sparkasse in Musterfeststellungsverfahren

05.04.2024

Noerr berät die Berliner Sparkasse im AGB-Recht und in strategischen Fragen der Abwehr von Verbandsklagen. Am 27.03.2024 hat das Kammergericht über eine Musterfeststellungsklage (MFK) des Verbraucherzentrale Bundesverband e.V. (vzbv) gegen die Berliner Sparkasse entschieden. Die Berliner Sparkasse hatte im Jahr 2016 ihre Preise angepasst, gestützt auf einen seinerzeit von allen Kreditinstituten verwendeten AGB-Änderungsmechanismus (die sog. Zustimmungsfiktion). Während das Gericht Preisanpassungen, die auf eine Zustimmungsfiktionsklausel gestützt waren, als unwirksam erachtete, bestätigte es insbesondere die Auffassung der Berliner Sparkasse, dass der Lauf der Verjährungsfrist etwaiger Verbraucheransprüche auch unter Berücksichtigung des Europarechts nicht hinausgeschoben wurde. Daneben lässt das Urteil jedoch zentrale Fragen offen, darunter auch, ob Verbrauchern überhaupt Rückforderungsansprüche zustehen können.

Hintergrund

Mit Urteil vom 27.04.2021 (XI ZR 26/20) entschied der BGH, dass eine Preisanpassungsklausel in Verbraucher-AGB unwirksam ist, wenn die Klausel regelt, dass die Zustimmung des Kunden zu Entgeltanpassungen unter bestimmten Voraussetzungen als erteilt gilt (bzw. fingiert wird). Gestützt auf das Urteil des BGH erhob der vzbv im Dezember 2021 gegen die Berliner Sparkasse Klage. Nach Auffassung des vzbv sind die Preisanpassungen, die auf die unwirksame Zustimmungsfiktionsklausel gestützt wurden, unwirksam, sodass Kunden insoweit Bereicherungsansprüche zustünden.

Gegenstand des Verfahrens vor dem Kammergericht sind insgesamt neun Feststellungsziele des vzbv. Im Kern dreht sich die Auseinandersetzung jedoch um zwei Fragen: Zum einen, ob die Entgeltanpassungen im Jahr 2016 im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung – in Anlehnung an die Rechtsprechung des BGH zu Energielieferungsverträgen – trotz der Unwirksamkeit der AGB-Klausel als wirksam anzusehen sind, weil der Kunde das erhöhte Entgelt über einen längeren Zeitraum beanstandungslos gezahlt hat (sog. Dreijahreslösung) und ohne eine solche ergänzende Vertragsauslegung das bei Vertragsschluss bestehende Äquivalenzverhältnis von Leistung und Gegenleistung gravierend gestört würde. Zum anderen, ob der Lauf der Verjährungsfrist aus europarechtlichen Gründen jedenfalls bis zum Erlass des BGH-Urteils hinausgeschoben war, weil es auf die Rechtskenntnis des Verbrauchers und nicht lediglich auf seine Tatsachenkenntnis ankomme.

„Dreijahreslösung“ nicht auf Bankverträge übertragbar

Das Kammergericht erachtete die Preisanpassungen mit knapper Begründung als unwirksam. Es stellte einerseits darauf ab, dass die unwirksame AGB-Klausel – anders als in Energielieferverträgen – nicht den Preis selbst betreffe, sondern lediglich eine Zustimmung des Kunden fingiere. Dass der BGH eine praktisch identische Klausel in dem o.g. Urteil ausdrücklich als Preisanpassungsklausel qualifizierte, blieb dabei unerwähnt.

Andererseits argumentierte das Gericht, dass die Interessenlage von Kreditinstituten und Energieversorgern nicht vergleichbar sei, weil die Kosten des Girogeschäfts nicht in vergleichbarer Weise erheblichen externen Schwankungen unterlägen. Unerwähnt blieb dabei der gutachterlich untermauerte Sachvortrag der Berliner Sparkasse dazu, dass (externe) Zinsentwicklungen die Nettokosten eines Privatgirokontos und damit das bei Vertragsschluss bestehende Äquivalenzverhältnis insgesamt gravierend zulasten der Sparkasse verschoben haben. Das Urteil lässt damit die eigentliche Frage offen, ob gravierende Äquivalenzstörungen im Kontext von Giroverträgen zwingend zulasten des Klauselverwenders gehen, obgleich die Vertragsparteien derartige Störungen mittels eines AGB-Änderungsmechanismus gerade vermeiden wollten.

Beginn der kenntnisabhängigen Verjährungsfrist nicht hinausgeschoben

Mit Blick auf die potenzielle Breitenwirkung von besonderer Bedeutung ist die zweite Kernfrage des Verfahrens, ob der Lauf der Verjährungsfrist jedenfalls bis zum BGH-Urteil im April 2021 hinausgeschoben war. Nach Ansicht des vzbv war dies der Fall, weil der EuGH aus der Klausel-Richtlinie ableitet, dass der Lauf der Verjährungsfrist von der Rechtskenntnis von Verbrauchern abhängig ist (vgl. auch Noerr-News vom 26.01.2024). Das Kammergericht hat diese Ansicht abgelehnt. Es ist stattdessen der Argumentation der Berliner Sparkasse gefolgt, dass die notwendige unionsrechtskonforme Auslegung nicht in Betracht kommt, weil der Gesetzgeber ausweislich des Wortlauts des § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB und der Gesetzeshistorie den Verjährungsbeginn an Tatsachenkenntnis und nicht an Rechtskenntnis anknüpft. Damit hat das Kammergericht das Interesse an Rechtsfrieden und Rechtssicherheit deutlich gestärkt.

Widerklage nicht statthaft – zentrale Fragen bleiben offen

Ob und unter welchen Voraussetzungen sich Verbraucher den Wert der ggf. rechtsgrundlos empfangenen Leistungen anrechnen lassen müssen, wird in der Literatur nicht einheitlich beantwortet. Nach Aussage des vzbv in der mündlichen Verhandlung verzichtete dieser bewusst darauf, diese Frage durch eigene Anträge klären zu lassen. Stattdessen kam es auf die Hilfswiderklageanträge der Berliner Sparkasse an. Über diese entschied das Kammergericht jedoch nicht, weil es den Gesetzesmaterialien entnahm, dass Widerklagen in Musterfeststellungsverfahren nicht statthaft und daher unzulässig seien. Das Urteil des Kammergerichts lässt damit auch weitere zentrale Rechtsfragen offen.

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Noerr ist Vorreiter bei der Abwehr von Kollektivklagen und Massenverfahren. Mit dem spezialisierten Team der Praxisgruppe Class & Mass Action Defense berät Noerr regelmäßig bei der Verteidigung gegen Kapitalanlegermusterverfahren, Musterfeststellungsklagen und Verbandsklageverfahren ebenso wie bei der Abwehr von Inanspruchnahmen durch strukturierte Klagevehikel und in Massenverfahren.

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