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Gerichtsstandort Deutschland

03.09.2020

Viele Unternehmen führen ihre Rechtsstreitigkeiten mit internationalem Bezug gegenwärtig vorrangig vor privaten Schiedsgerichten. In einigen Fallgestaltungen kann jedoch auch die Austragung eines Streits vor staatlichen Gerichten sinnvoll sein. Die Frage, wann dies der Fall ist, stellt sich gerade aktuell vor dem Hintergrund der neuesten Entwicklungen in der deutschen Justiz zur Einrichtung von speziellen Commercial Courts in neuem Licht.

Das deutsche Rechtssystem per se ist bereits international sehr anerkannt und gehört seit Jahren und auch 2020 zur absoluten Spitzengruppe auf dem Rechtsstaatlichkeitsindex des World Justice Project. Wo bis dato jedoch London als Gerichtsstandort für internationale wirtschaftsrechtliche Streitigkeiten unangefochtener Wettbewerbsführer war, besteht spätestens seit dem Brexit die Chance für andere europäische Standorte, als internationale Gerichtsstandorte zu wachsen. Dies könnte und sollte auch für die deutsche Justiz ein Anlass sein, sich im internationalen Wettbewerb zu stärken.

I. Aktuelle Situation   

1. Digitalisierung der Gerichte als Standortthema

Die Einführung des elektronischen Rechtsverkehrs stellt für die Wettbewerbsfähigkeit bereits den ersten und einen essenziellen Schritt dar. Gerade in den durch Covid-19 bedingten Zeiten des Home-Offices wurde einmal mehr deutlich, dass Digitalisierung auch in der Gerichtsbarkeit unverzichtbar ist. Bis heute erfolgt der elektronische Rechtsverkehr in der deutschen Justiz allerdings noch nicht umfassend. Wenn Rechtsanwälte ihre Unterlagen über das besondere elektronische Anwaltspostfach versenden, werden auf Seiten der Gerichte die Posteingänge oft noch vollständig ausgedruckt. Zum Teil geschieht dies lediglich in schwarz-weiß statt in Farbe. Diesbezüglich hat das Kammergericht immerhin kürzlich entschieden, dass diese Praxis rechtlich nicht haltbar sei. Das Befassen mit nicht originalgetreuen Schriftsätzen – im konkreten Fall eben Schwarz-Weiß-Ausdrucken statt solcher in Farbe – sei für die Richter unzumutbar, zudem sei der Anspruch auf rechtliches Gehör der Parteien so nicht gewahrt (vgl. Beschluss vom 23.06.2020 - 5 W 1031/20). Eine elektronische Akte ist lange aber nicht flächendeckend eingeführt. Besonders im internationalen Rechtsverkehr ist dies für die Kommunikation allerdings ein unverzichtbarer Bestandteil und wird in anderen Rechtssystemen und in Schiedsverfahren oftmals bereits praktiziert. Vor dem Hintergrund der Kosten- und Zeiteffizienz des Verfahrens ist der elektronische Rechtsverkehr unabdingbar. Das Thesenpapier der OLG-Arbeitsgruppe „Modernisierung des Zivilprozesses“zeigt hier einen zukünftigen Weg auf.

2. Englischsprachige Spruchkörper als Vorreiter in Deutschland

Vorreiter in Bezug auf internationale Verhandlungen in Deutschland sind derzeit die Gerichte im OLG-Bezirk Köln und die Landgerichte in Frankfurt am Main und Hamburg:

Im OLG-Bezirk Köln bieten speziell ausgewiesene Kammern die Möglichkeit, bei Einverständnis aller Parteien die mündliche Verhandlung auf Englisch zu führen. Eine solche englischsprachige mündliche Verhandlung fand erstmalig im Rahmen eines Modellversuchs am Landgericht Bonn Ende 2010 statt.

Im Jahr 2018 wurden schließlich auch am Landgericht Frankfurt am Main und am Landgericht Hamburg englischsprachige Kammern in den Geschäftsverteilungsplan aufgenommen. Geeignet für die Zuweisung an diese sog. Kammer für internationale Handelssachen sind am Landgericht Frankfurt am Main solche Streitigkeiten, die einen internationalen Bezug aufweisen und bei welchen die Parteien spätestens mit Ablauf der Klageerwiderungsfrist übereinstimmend erklären, dass sie die mündliche Verhandlung in englischer Sprache führen wollen und auf einen Dolmetscher verzichten.

Beim Landgericht Hamburg gibt es eine englischsprachige Kammer für Handelssachen und zusätzlich eine englischsprachige Zivilkammer für alle Zivilverfahren mit internationalem Bezug. Der Antrag auf Übertragung oder Verweisung aufgrund internationalen Bezugs muss in der Anspruchsbegründungs- bzw. Klageschrift gestellt werden.

Nach aktueller Gesetzeslage ist jedoch nur die Verhandlungsführung gemäß § 185 Abs. 2 GVG auf Englisch möglich. Gerichtssprache bleibt nach § 184 GVG weiterhin Deutsch, sodass Schriftsätze und Urteile in deutscher Sprache verfasst werden müssen. Dies führt zu einem Sprachenbruch und wiederum zu einem Nachteil im Vergleich zur privaten Schiedsgerichtsbarkeit oder anderen Rechtsystemen, in denen Englisch als Gerichtssprache längst anerkannt ist. Ein dementsprechender Gesetzesentwurf, der Englisch als weitere Gerichtssprache vorsieht, wurde Anfang 2018 über den Bundesrat eingebracht (BR-Drs. 53/18). Dieser Gesetzesentwurf wurde bereits 2010 und 2014 vorgelegt, ist aber schließlich jeweils ohne weitere Verabschiedung durch den Bundestag verfallen. Auch der erneute Gesetzesentwurf wurde vom Bundestag bislang noch nicht aufgegriffen.

3. Beschlossene Einrichtung zweier Commercial Courts in Baden-Württemberg

Besonders interessant für die Austragung komplexer internationaler Streitigkeiten ist die nunmehr ab 1. November 2020 geplante Eröffnung eines sogenannten Commercial Courts in Baden-Württemberg hervorzuheben. Internationale Commercial Courts sind auf internationale Wirtschaftsverfahren spezialisierte Handelsgerichte und Handelskammern. Die erste Einrichtung dieser Art war der Dubai International Finance Center Court (DIFCC). Inzwischen gibt es ähnliche Einrichtungen bereits an anderen Standorten wie Paris, Amsterdam (NCC) und Singapur (SICC).

Der Commercial Court in Baden-Württemberg soll sich ausschließlich auf die Durchführung komplexer ziviler Wirtschaftsverfahren spezialisieren. Dabei wird am Landgericht Mannheim und in Stuttgart jeweils eine Wirtschaftskammer und eine Kammer für Handelssachen mit spezieller Zuständigkeit eingerichtet. Der Stuttgarter Standort wird am Campus Fasanenhof in unmittelbarer Nähe zum Flughafen errichtet, was einen Vorteil für internationale Anreisen darstellt. Das Landgericht Mannheim genießt bereits einen hervorragenden Ruf im Patentrecht und trägt international wichtige Patentstreitigkeiten aus, sodass sich dieser Standort für den Commercial Court anbietet. Auch an den Commercial Courts Baden-Württemberg soll die Verhandlung auf Englisch möglich sein. Die Besetzung mit im Wirtschaftsrecht besonders erfahrenen Richtern soll die Verhandlungsführung auf hohem Niveau auch in komplexen Streitigkeiten gewährleisten. Durch den Einsatz moderner Kommunikationsmittel, Videoübertragungen und durch eine effiziente Verfahrensführung, u.a. durch Verhandlungen, die ggf. in mehreren Tagen am Stück durchgeführt werden plant die baden-württembergische Justiz mit den Commercial Courts, die staatlichen Zivilgerichte wieder für große Wirtschaftsstreitigkeiten mit internationalem Sachbezug attraktiv zu machen.

Auch in Nordrhein-Westfalen ist inzwischen an den Oberlandesgerichten Köln, Düsseldorf und Hamm die Einrichtung von Commercial Courts geplant. Diese sollen für Handelsstreitigkeiten mit sehr hohen Streitwerten den Weg eröffnen, bereits erstinstanzlich direkt bei spezialisierten Senaten der Oberlandesgerichte zu verhandeln.

II. Ausblick

Festzuhalten bleibt, dass die deutsche Justiz in den letzten Jahren und mit den erwähnten Neuerungen gerade für internationale Unternehmen die Option eröffnet hat, ihre Rechtsstreite auch vor deutschen staatlichen Gerichten auszutragen.

Um jedoch tatsächlich international und im Hinblick auf private Schiedsgerichte wettbewerbsfähiger zu werden, bleibt noch viel Raum für Verbesserungen. Effiziente Verfahrensführung kann – und wird oftmals bereits in Schiedsverfahren – beispielsweise durch besondere Maßnahmen wie Verfahrenskonferenzen, die Abschichtung und Strukturierung des Prozessstoffs, den Einsatz von Wortprotokollen und Videoübertragungen, flexible Tagungsorte gewährleistet. Auch der Gesichtspunkt der Vollstreckbarkeit einer Entscheidung in Ländern außerhalb der EU sollte bei der Frage, welches Forum sich für Rechtsstreitigkeiten anbietet, betrachtet werden. Damit die staatlichen Gerichte hier wettbewerbsfähiger werden, wäre zunächst das Inkrafttreten und die Ratifizierung des Haager Übereinkommens über die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Gerichtsurteile in Zivil- und Handelssachen notwendig. Schließlich besteht im technischen Bereich bei den staatlichen Gerichten weiterhin Aufholbedarf. Unter Berücksichtigung der ohnehin eintretenden Pflicht zur Führung der elektronischen Akte ab dem Jahr 2026 wäre eine frühzeitige Ausrichtung der Justiz dahingehend erstrebenswert. Jedenfalls sollte besonders in der heutigen Zeit eine stetige Offenheit der Justiz auch für Automatisierungen und die neuesten Entwicklungen im Legal Tech-Bereich bestehen.

Bis dahin gilt es aber, insbesondere für Unternehmen mit internationalen Rechtsstreitigkeiten, abzuwägen, welche Vereinbarung der Gerichtsbarkeit und vor welchen (Schieds-)Gerichten und Standorten die Austragung eines Rechtsstreits vorteilhaft ist.

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Schiedsverfahren
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