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Vertikal-GVO und Leitlinien: Übersicht zu den Entwürfen der Europäischen Kommission vom 09.07.2021

13.08.2021

A. Einführung

Das kartellrechtliche Verbot wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen (Art. 101 Abs. 1 AEUV / § 1 GWB) gilt auch im sog. Vertikalverhältnis, d. h. im Verhältnis von Hersteller zu Großhändlern und von diesen zu Einzelhändlern betreffend den Kauf und Weiterverkauf von Waren bzw. Dienstleistungen. Um das Kartellverbot für derartige Vertikalverhältnisse zu konkretisieren, hat der europäische Gesetzgeber die Vertikal-Gruppenfreistellungsverordnung („VGVO“) erlassen. Die VGVO enthält bestimmte Klauseln, die dazu führen, dass entweder die gesamte Vereinbarung jedenfalls nicht freistellungsfähig ist (sog. „schwarze“ Klauseln oder auch „Kernbeschränkungen“ genannt) oder dass jedenfalls einzelne Klauseln nicht freigestellt sind (sog. „graue“ Klauseln), die restliche Vereinbarung jedoch schon. Enthält ein Vertikalvertrag daher keine schwarzen oder grauen Klauseln, können die Vertragsparteien sicher sein, dass der Vertrag aufgrund des Schutzschirms der VGVO vom Kartellverbot freigestellt ist. Zur weiteren Erläuterung der Regelungen der VGVO hat die Europäische Kommission („Kommission“) ergänzende Leitlinien erlassen.

Die Geltungsdauer der VGVO endet am 31.05.2022. Aus diesem Grund begann die Kommission bereits im Jahr 2018 mit einer Evaluation, welche Vorteile die VGVO für die Anwender gebracht hat und welche Probleme oder Regelungslücken sich seit ihrem Inkrafttreten im Jahr 2010 gezeigt haben. Als Ergebnis dieser Untersuchungen und ergänzender öffentlicher Konsultationen veröffentlichte Anfang Juli 2021 die Kommission Entwürfe für eine neue Vertikal-Gruppenfreistellungsverordnung („VGVO-E“) und neue Leitlinien („Vertikal-LL-E“). Die Kommission beabsichtigt insbesondere, die Regelungen für vertikale Vereinbarungen an neuere Marktentwicklungen anzupassen – vor allen Dingen (aber nicht ausschließlich) mit Blick auf den Internetvertrieb.

Bis zum 17.09.2021 haben Unternehmen, Verbände und andere interessierte Kreise die Möglichkeit, Stellung zu den Entwürfen zu nehmen.

Eine Übersicht der wesentlichen Änderungen finden Sie hier.

B. Vorgeschlagene Änderungen

Die Zahl der in der VGVO-E vorgeschlagenen inhaltlichen Änderungen ist insgesamt überschaubar. Gleichwohl haben diese hohe praktische Relevanz. Insbesondere die vorgesehenen Regelungen zu Online-Handelsplattformen und zum dualen Vertrieb geben Anlass für Diskussionen. Die erläuternden Ausführungen in den Vertikal-LL-E sind umfangreich ergänzt und überarbeitet worden. Auch hier bilden Erläuterungen zum Onlinevertrieb den Schwerpunkt.

Die wesentlichen Änderungen werden im Folgenden kurz skizziert.

I. Online-Handelsplattformen

Die VGVO-E definiert Online-Vermittlungsdienste (wie Handelsplattformen) als Dienste, die es Unternehmen ermöglichen, anderen Unternehmen oder Endverbrauchern Waren oder Dienstleistungen anzubieten. Ihr Angebot besteht also in der Vermittlung direkter Transaktionen zwischen Unternehmen oder zwischen Unternehmen und Endverbrauchern. Online-Handelsplattformen sollen künftig grundsätzlich als eigenständige Anbieter von Online-Vermittlungsdiensten betrachtet werden (Art. 1 Abs. 1 lit. d) VGVO-E). Eine – durch die Kommission durchaus beabsichtigte – Folge wäre, dass das sog. Handelsvertreterprivileg für sie nicht mehr anwendbar wäre (vgl. Vertikal-LL-E, Rn. 44). Vertriebsvereinbarungen mit Online-Handelsplattformen werden daher immer den Voraussetzungen der VGVO-E genügen müssen.

Weit verbreitet waren bislang sogenannte „weite“ Meistbegünstigungsklauseln. Danach verpflichteten sich Unternehmen gegenüber Online-Plattformen, ihre Leistungen oder Waren nicht zu günstigeren Konditionen auf anderen Vertriebswegen (online und offline) anzubieten. Derartige Klauseln sollen künftig nicht mehr freistellungsfähig sein (Art. 5 Abs. 1 lit. d) VGVO-E). Zulässig können aber „enge“ Meistbegünstigungsklauseln sein. Demnach soll eine Online-Plattform den Anbietern von Waren und Dienstleistungen untersagen können, die Leistung oder Ware im (eigenen) Direktvertrieb günstiger anzubieten.

Sofern der Betreiber einer Handelsplattform auf dieser auch selbst Waren oder Dienstleistungen als Händler anbietet (sog. „hybride“ Plattform), soll dessen Tätigkeit insgesamt dem Anwendungsbereich der VGVO-E entzogen werden (Art. 2 Abs. 7 VGVO-E). Die Vereinbarungen zwischen dem Betreiber der hybriden Plattform und dritten Unternehmen würden demnach nicht unter den Schutzschirm der VGVO-E fallen, sondern wären einzig an den Voraussetzungen des Kartellverbots zu messen.

II. Dualer Vertrieb

Die VGVO gilt derzeit grundsätzlich auch für Vereinbarungen zwischen Unternehmen, die sowohl in einer Lieferbeziehung zueinander stehen (z. B. Hersteller und Vertriebsmittler), als auch auf der Einzelhandelsebene miteinander im Wettbewerb stehen. Dies eröffnet Herstellern wie auch Betreibern von Franchisesystemen bisher die Möglichkeit, sog. duale Vertriebssysteme (gleichzeitiger Direkt- und Absatzmittlervertrieb) aufzubauen und zu betreiben, die von der Schirmfreistellung durch die VGVO erfasst werden. Denn Vereinbarungen und der Informationsaustausch zwischen Herstellern und Absatzmittlern sind derzeit unter den üblichen Voraussetzungen der VGVO (insb. Marktanteile von unter 30 % und keine Kernbeschränkungen) freigestellt.

Die geplante Neuregelung sieht insofern weitreichende und strengere Regeln für entsprechende Vertriebssysteme vor.

Eine (umfassende) Freistellung des Verhältnisses zwischen Herstellern und ihren Absatzmittlern soll im Falle eines dualen Vertriebs nur noch möglich sein, wenn der gemeinsame Marktanteil des Herstellers und des betroffenen Händlers auf der Einzelhandelsebene zusammen nicht mehr als 10 % beträgt (Art. 2 Abs. 4 VGVO-E). Liegt ihr gemeinsamer Marktanteil zwischen 10 % und 30 %, soll nur noch eine eingeschränkte Freistellung gewährt werden. Vertikale Regelungen werden nicht mehr generell freigestellt, sondern bedürfen einer näheren Prüfung nach dem Kartellverbot, nämlich insbesondere darauf hin, ob eine bezweckte Wettbewerbsbeschränkung vorliegt (vgl. Art. 2 Abs. 5, 6, 7 VGVO-E; Vertikal-LL-E, Rn. 87). Insofern wird das Prinzip des Safe Harbor verwässert.

Ergänzend und besonders bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang zu erwähnen, dass in einem dualen Vertriebssystem der Austausch von wettbewerblich relevanten Informationen zwischen Herstellern und Vertriebsmittlern – wie aktuelle Verkaufs- und Umsatzzahlen – ausdrücklich nur noch dann möglich sein soll, wenn der gemeinsame Marktanteil des Herstellers und des betroffenen Händlers auf dem Einzelhandelsmarkt die 10 %-Schwelle nicht übersteigt (Art. 2 Abs. 5 VGVO-E). Bei einem höheren Marktanteil wäre der Informationsaustausch dann nur noch unter Berücksichtigung des Kartellverbots und der diesbezüglichen Horizontalleitlinien der Kommission möglich (Art. 2 Abs. 5 VGVO-E). In der Praxis dürfte dies zu erheblichen Schwierigkeiten und vor allem zu einem erheblichen Mehraufwand und u. U. zu einem Mehr an Rechtsunsicherheit führen.

III. Wettbewerbsverbote

Eine Erleichterung sieht die VGVO-E für Wettbewerbsverbote vor. So soll künftig eine Vereinbarung zulässig sein, wonach sich ein Wettbewerbsverbot nach Ablauf von fünf Jahren automatisch verlängert. Voraussetzung dafür ist, dass die vertikale Vereinbarung mit einer angemessenen Kündigungsfrist gekündigt bzw. zu angemessenen Kosten wirksam neu verhandelt werden kann. Einem Abnehmer soll also tatsächlich die Möglichkeit offen stehen, nach Ablauf der Fünfjahresfrist den Lieferanten zu wechseln (vgl. Art. 5 Abs. 1 a. E. VGVO-E; Vertikal-LL-E, Rn. 233 ff.). Bislang scheidet eine Gruppenfreistellung aus, wenn sich das Wettbewerbsverbot nach Ablauf von fünf Jahren automatisch verlängert.

IV. Alleinvertrieb

Bei einem Alleivertrieb stellen Beschränkungen des Gebietes oder der Kundengruppen, an die aktiv oder passiv verkauft werden darf, grundsätzlich eine Kernbeschränkung dar (Art. 4 lit. c) (i) VGVO-E). Ausnahmsweise ist jedoch – wie bisher – das Verbot des aktiven Verkaufs in exklusive Gebiete oder an bestimmte Kundengruppen freigestellt. Die VGVO-E erlaubt darüber hinaus das Verbot des aktiven und passiven Verkaufs an unautorisierte Händler in selektiven Vertriebsgebieten sowie ein Verbot des aktiven und passiven Verkaufs an Endverbraucher durch Großhändler.

Anders als bisher, soll künftig nicht mehr notwendig sein, das Alleinvertriebsgebiet einem einzigen Händler exklusiv zuzuweisen, vielmehr sollen sich künftig auch mehrere Händler („begrenzte Zahl von Abnehmern“) ein Alleinvertriebsgebiet teilen können (Art. 4 lit. b) VGVO-E). Ein Hersteller soll künftig von seinen Alleinvertriebshändlern außerdem verlangen können, dass diese das Verbot des aktiven Verkaufs in andere Alleinvertriebsgebiete oder Gebiete mit einem selektiven Vertriebssystem durchreichen (Art. 4 lit. b) (i), (ii) VGVO-E). Derzeit ist die Beschränkung der Verkäufe durch Kunden der Alleinvertriebshändler ausdrücklich untersagt (Art. 4 lit. b) (i) VGVO-E).

V. Selektiver Vertrieb

Auch im Rahmen selektiver Vertriebssysteme stellen Beschränkungen des Gebietes oder der Kundengruppen, an die aktiv oder passiv verkauft werden darf, grundsätzlich eine Kernbeschränkung dar (Art. 4 lit. c) (i) VGVO-E). In Zukunft sollen bestimmte Beschränkungen freigestellt werden können (Art. 4 lit. c) (i) VGVO-E). Erlaubt sein soll demnach u. a.:

    • Verbot des aktiven Vertriebs in Exklusivgebieten;
    • Verbot des aktiven bzw. passiven Vertriebs an unautorisierte Händler in selektiven Vertriebsgebieten;
    • Beschränkungen des Niederlassungsortes des Händlers.

VI. Preisbindung

Die VGVO-E sieht keine grundlegenden Änderungen vor, insbesondere bleiben Preisvorgaben und Mindestpreise unzulässig.

Aktionen, bei denen der Hersteller dem Absatzmittler den Preis vorgibt, sollen aber weiterhin für kurze Zeit zulässig sein (Vertikal-LL-E, Rn. 182 lit. b)). Zudem enthält der Entwurf der neuen Leitlinien die hilfreiche Klarstellung, dass Preisüberwachungssoftware nicht per se als Preisbindung gewertet werden darf, wenngleich eine derartige Software ein Hilfsmittel bei der Durchsetzung einer verbotenen Preisbindung sein kann (Vertikal-LL-E, Rn. 175 lit. f)). Preisvorgaben bei Erfüllungsverträgen, bei denen ein Händler die vorherige Vereinbarung zwischen Lieferanten und einem bestimmten Endverbraucher ausführt, sollen ebenfalls nicht mehr als eine Form der Preisbindung gelten.

VII. Online-Vertrieb

Änderungen mit erheblichen praktischen Auswirkungen bringt die VGVO-E für die Ausgestaltung von Online-Vertriebskanälen mit sich. Als Grundsatz stellen die Leitlinien fest, dass der effektive Internetvertrieb für Händler stets möglich bleiben muss. Beschränkungen des Händlers oder seines Kunden an der effektiven Nutzung des Internets (zum Zwecke des Vertriebs) werden grundsätzlich als Kernbeschränkungen angesehen. Jedoch sollen künftig Doppelpreissysteme (sog. dual pricing) nicht mehr als Kernbeschränkung eingeordnet werden. Hersteller sollen unterschiedliche Großhandelspreise für Online- und Offline-Verkäufe desselben Händlers festsetzen können, um unterschiedlich hohe Investitionen des Händlers in den jeweiligen Vertriebskanal ausgleichen zu können (Vertikal-LL-E, Rn. 195). Auch sollen Mengenverkaufsvorgaben für stationäre Geschäfte zulässig sein (Vertikal-LL-E, Rn. 195).

Qualitätsanforderungen an den Online-Shop sollen ebenfalls zulässig sein (Vertikal-LL-E, Rn. 193), wie z. B. an das Aussehen und die Gestaltung der Webseite. Dabei müssen die von Anbietern auferlegten Kriterien in Bezug auf den Onlinevertrieb nicht mehr gleichwertig sein im Vergleich zu stationären Verkaufsstellen (Aufgabe des Gleichwertigkeitsprinzips).

Anforderungen an Onlinewerbung sollen grundsätzlich zulässig sein, solange die effektive Nutzung eines oder mehrerer bestimmter Online-Werbekanäle nicht verhindert wird.

Ferner wird klargestellt, dass Plattformverbote grundsätzlich unter die Gruppenfreistellung durch die VGVO fallen (vgl. „Coty“-Urteil).

Ein generelles Verbot der Nutzung von Preisvergleichsportalen soll durch die VGVO-E nicht freigestellt werden. Gleiches gilt für ein generelles Verbot der Weitergabe von Preisdaten an Preisvergleichsportale (vgl. Vertikal-LL-E, Rn. 192 f.). Jedoch kann das Verbot eines bestimmten Preisvergleichsportales freigestellt sein.

Unter diesem Link können Sie eine Übersicht der wesentlichen Änderungen herunterladen.