News

BGH legt Frage des „ewigen Widerrufsrechts“ dem EuGH vor

31.03.2022

Der Gerichtshof der Europäischen Union („EuGH“) erhält erneut die Gelegenheit, sich mit der Auslegung der Richtlinie 2008/48/EG („Verbraucherkredit-Richtlinie“) zu befassen. In der Sache geht es darum, ob bei Darlehensverträgen, die in den Anwendungsbereich der Verbraucherkredit-Richtlinie fallen, ein Widerrufsrecht grenzenlos besteht, wenn der Darlehensvertrag nicht die erforderlichen Pflichtangaben enthält.

Der Bundesgerichtshof („BGH“) formuliert in seinem Beschluss vom 31.01.2022 die Vorlagefrage recht sperrig, nämlich ob Art. 14 Abs. 1 der Verbraucherkredit-Richtlinie dahin auszulegen ist, dass es den nationalen Gerichten nicht verwehrt ist, im Einzelfall bei Vorliegen besonderer, über den bloßen Zeitablauf hinausgehender Umstände die Berufung des Verbrauchers auf sein wirksam ausgeübtes Widerrufsrecht als missbräuchlich oder betrügerisch zu bewerten mit der Folge, dass ihm die vorteilhaften Rechtsfolgen des Widerrufs versagt werden können.

Kontext der BGH-Entscheidung

Der sog. Widerrufsjoker beschäftigt die Gerichte bekanntlich schon seit Jahren. Nachdem zunächst Immobiliar-Darlehensverträge im Fokus standen, versuchen Verbraucher sich seit einiger Zeit vermehrt mit Verweis auf ein Widerrufsrecht auch noch Jahre nach Vertragsschluss von Darlehensverträgen zur Finanzierung eines PKW-Erwerbs zu lösen, auf. Vielfach sind Darlehensvertrag und PKW-Kaufvertrag miteinander verbundene Verträge im Sinne des § 358 BGB, so dass der wirksame Widerruf des Darlehensvertrags auch zu einer Lösung des Verbrauchers vom Kaufvertrag und damit zur Rückgabe des Fahrzeugs führt.

Bisherige Rechtsprechung des BGH: Widerrufsrecht unterliegt der Schranke des § 242 BGB

Es gehört zu den zentralen Fragen, ob bei fehlenden Pflichtangaben in Verbraucherdarlehensverträgen das dem Verbraucher zustehende Widerrufsrecht gewissermaßen ewig besteht, oder nicht die Ausübung des Widerrufs im Einzelfall Schranken unterliegt. Letzteres entspricht der Auffassung des Bundesgerichtshof. In den Fällen, in denen das Darlehen vollständig zurückgeführt ist und etwaig bestehende Sicherheiten freigegeben worden sind, hat er sich stets für eine Verwirkung des Widerrufsrechts ausgesprochen und die Wirksamkeit eines Widerrufs wegen eines Verstoßes gegen Treu und Glauben (§ 242 BGB) verneint. Aber auch in den Fällen, in denen der Widerruf während eines noch laufenden Darlehensvertrages erklärt wurde, kann nach der bisherigen Rechtsprechung des BGH die Ausübung des Widerrufsrechts im Einzelfall treuwidrig (§ 242 BGB) und damit unzulässig sein. Der BGH hat es in der Vergangenheit stets abgelehnt, dem EuGH die Frage vorzulegen, ob diese Rechtsprechung mit den Vorgaben der Verbraucherkredit-Richtlinie im Einklang steht.

Das EuGH-Urteil vom 09.09.2021: Ewiges Widerrufsrecht?

Bereits mit Urteil vom 09.09.2021 hatte der EuGH auf einen Vorlagebeschluss des LG Ravensburg entschieden, dass es dem Darlehensgeber wegen Art. 14 Abs. 1 der Verbraucherkredit-Richtlinie verwehrt ist, sich auf den Einwand der Verwirkung und des Rechtsmissbrauchs zu berufen, sofern eine sogenannte Pflichtangabe im Darlehensvertrag nicht enthalten ist und auch nicht nachträglich ordnungsgemäß mitgeteilt wurde (vgl. News-Beitrag vom 17.09.2021). Das Urteil des EuGH vom 09.09.2021 wurde von Teilen des Schrifttums und der Rechtsprechung dahingehend verstanden, dass ein bestehendes Widerrufsrecht vom Verbraucher de facto schrankenlos und selbst Jahre nach vollständiger Beendigung des Darlehensvertrages ausgeübt werden könne. Das wäre ein tiefer Einschnitt in die deutsche Rechtspraxis. 

Der Inhalt der EuGH-Vorlage des BGH vom 31.01.2022

Nachdem der EuGH in jüngerer Vergangenheit – veranlasst auf Vorlagegesuche deutscher Instanzgerichte, allen voran des Landgerichts Ravensburg – zu Fragen des Verbraucherkreditrechts dezidiert anderer Auffassung war als der BGH und der BGH daraufhin seine bisherige Rechtsprechung erheblich revidieren musste, kam der BGH diesmal nicht umhin, selbst ein Vorabentscheidungsgesuch zu formulieren. Als letztinstanzliches Gericht ist der BGH hierzu gemäß Art. 267 Abs. 2 AEUV verpflichtet.

Ausgangspunkt: Der unionsrechtliche Rechtsmissbrauch

In seinem Vorlagebeschluss greift der BGH den vom EuGH in ständiger Rechtsprechung bestätigten Grundsatz auf, wonach die betrügerische oder missbräuchliche Berufung auf das Unionsrecht nicht gestattet ist und fasst die vom EuGH hierzu formulierten Obersätze noch einmal zusammen: Demnach verlange die Feststellung eines missbräuchlichen Verhaltens das Vorliegen eines objektiven und eines subjektiven Tatbestandes. Das objektive Tatbestandsmerkmal ist dann erfüllt, wenn sich aus einer Gesamtwürdigung der objektiven Umstände ergibt, dass trotz formaler Einhaltung der von der Unionsregelung vorgesehenen Bedingung das Ziel der Regelung nicht erreicht werde. Das subjektive Element wiederum setze die Absicht des Handelnden voraus, sich einen unionsrechtlich vorgesehenen Vorteil dadurch zu verschaffen, dass die entsprechenden Voraussetzungen willkürlich geschaffen werden.

Umstände für einen unionsrechtlichen Rechtsmissbrauch im Anwendungsbereich der Verbraucherkredit-Richtlinie vom EuGH noch ungeklärt

Nach Auffassung des BGH ist noch nicht abschließend geklärt, unter welchen Voraussetzungen der unionsrechtliche Grundsatz des Rechtsmissbrauchs im Anwendungsbereich der Verbraucherkredit-Richtlinie anzuwenden ist. Insbesondere sei unklar, welche objektiven und subjektiven Umstände dazu führen, dass die Berufung des Verbrauchers auf das nach Art. 14 der Verbraucherkredit-Richtlinie eingeräumte Widerrufsrecht als rechtsmissbräuchlich anzusehen ist. Auch aus dem Urteil des EuGH vom 09.09.2021 folgt nach dem Verständnis des BGH nichts Gegenteiliges. Darin habe der EuGH zwar ausgeführt, dass eine Bank dem Darlehensnehmer keinen Missbrauch des Widerrufsrechts vorwerfen könne, wenn zwischen Vertragsschluss und Erklärung des Widerrufs erhebliche Zeit vergangen sei. Allerdings hat der EuGH nach dem Verständnis des BGH keine Aussage dazu getroffen, ob es im Einzelfall anders liegen kann, wenn Umstände festgestellt worden sind, die über den bloßen Zeitablauf hinausgehen und in ihrer Gesamtheit die Annahme tragen, der Verbraucher berufe sich willkürlich auf eine formale Rechtsstellung.

Umstände aus Sicht des BGH

Solche objektiven Umstände können aus Sicht des BGH sein:

  • Weiternutzung des PKW nach Erklärung des Widerrufs durch den Verbraucher und der damit einhergehenden Wertminderung des Fahrzeugs auf Kosten der finanzierenden Bank
  • Widerrufserklärung nach vorzeitiger Beendigung des Darlehens auf Wunsch des Verbrauchers oder einvernehmlicher Vertragsaufhebung
  • Freigabe sämtlicher Sicherheiten durch den Darlehensgeber

Anhand dieser objektiven Umstände will der BGH zugleich in subjektiver Hinsicht folgern, dass es dem Verbraucher darum geht, einen unionsrechtlich nicht vorgesehenen Vorteil zu erlangen.

Ausblick

Das Urteil des EuGH in diesem Vorabentscheidungsverfahren wird nun mit Spannung erwartet. Insbesondere darf man gespannt sein, ob der EuGH seine Antwort, entlang der vom BGH noch einmal wiedergegebenen Grundsätze des unionsrechtlichen Rechtsmissbrauchs entwickelt oder einen davon losgelösten Begründungsansatz wählt.

Gerade bei der Frage, ob ein Widerruf auch nach Beendigung des Darlehensvertrages noch wirksam erklärt werden kann, scheint der BGH sehr in der Dogmatik des BGB verhaftet. Auf einen unionsrechtlich verstandenen Rechtsmissbrauch kommt es gar nicht an, wenn schon die Auslegung der Verbraucherkredit-Richtlinie ergibt, dass ein Widerruf nicht mehr erklärt werden kann, nachdem der Darlehensvertrag vollständig erklärt worden ist. Erfreulicherweise hat sich das OLG Stuttgart in seiner EuGH-Vorlage vom 12.10.2021 – 6 U 715/19 methodisch flexibler gezeigt. Die Augen sind nun nach Luxemburg gerichtet.

Gesellschafts- & Finanzrechtliche Streitigkeiten
Banking & Finance
Kollektiver Rechtsschutz & Massenverfahren

Share