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EGMR entscheidet über drei „Klimaklagen“ – wegweisender Erfolg für zukünftige Klimaschutzklagen?

16.04.2024

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg hat über die Fragen entschieden, ob Klimaschutz ein Menschenrecht ist und wer ein solches Recht einklagen kann. Diese Fragen beschäftigten den EGMR in gleich drei Verfahren mit Klägern aus der Schweiz, Frankreich und Portugal. Insbesondere das Urteil, mit dem der EGMR der „Klimaklage“ der Schweizer „Klimaseniorinnen“ stattgegeben hat, ist interessant und könnte in einigen Staaten zu einem Umdenken führen.

„Klimaklage“ vor dem EGMR erfolgreich

Es ist das erste Mal, dass eine sog. „Klimaklage“ vor dem EGMR Erfolg hatte (Urteil vom 09.04.2024, Verein Klimaseniorinnen Schweiz and Others v. Switzerland, Application no. 53600/20). Das Urteil ist aus zweierlei Gründen wegweisend: Zum einen hat der EGMR festgestellt, dass die Menschenrechte aus Art. 2 und Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) auch das Recht gewähren, durch staatliche Maßnahmen vor den Folgen des Klimawandels für Leben, Gesundheit und Wohlbefinden geschützt zu werden. Damit hat er das Tor für Argumentationen in zukünftigen Klimaklagen mit einem allgemeinen „Menschenrecht auf Klimaschutz“ weit geöffnet. Zum anderen hat der EGMR anerkannt, dass ein solches Begehren von einem Verband geltend gemacht werden kann. Auch dies dürfte ein Vorbild für Kläger weiterer Klimaklagen sein.

In der Sache hatte sich das Gericht mit der Beschwerde einer Gruppe Seniorinnen und des Vereins „Klimaseniorinnen Schweiz“ befasst: Diese hatten gegen die Schweiz Beschwerde erhoben und argumentiert, die Schweizer Behörden würden keine ausreichenden Maßnahmen ergreifen, um die Auswirkungen des Klimawandels auf die Lebensbedingungen und die Gesundheit – gerade besonders betroffener älterer Menschen – einzudämmen. Zuvor hatten sie erfolglos alle nationalen Instanzen in der Schweiz durchlaufen. Unterstützt und finanziert wurde die „Klimaklage“ von Greenpeace.

Der EGMR stellte fest, dass sich aus der EMRK ein Recht auf wirksamen Schutz durch staatliche Behörden vor den schwerwiegenden nachteiligen Auswirkungen des Klimawandels auf Leben, Gesundheit, Wohlbefinden und Lebensqualität ergebe. Die Schweiz sei ihren daraus korrespondierenden Pflichten nicht nachgekommen und habe so das Recht auf Privat- und Familienleben der „Klimaseniorinnen“ aus Art. 8 EMRK verletzt.

Ein wichtiger Streitpunkt in der Verhandlung war die Frage der sog. Opfereigenschaft („victim-status criteria“, Art. 34 EMRK), mithin ob die Klägerinnen beschwerdebefugt sind. Für die vier Einzelklägerinnen lehnte der EGMR die Opfereigenschaft ab. Der EGMR machte damit deutlich, wie hoch die Schwelle für die Annahme einer Opfereigenschaft bei Klimaklagen angesichts der unbestimmten Anzahl betroffener Personen liegt, um Popularbeschwerden zu vermeiden. Um aus der EMRK beschwerdebefugt zu sein, müssten Individualpersonen den Folgen des Klimawandels daher im besonderen Maße – etwa hinsichtlich der Dauer und der Schwere der Schäden oder durch eine besondere geografische Nähe – ausgesetzt sein.

Eine Beschwerdebefugnis des VereinsKlimaseniorinnen Schweiz“ bejahte der EGMR indes, weil (i) die Organisation rechtmäßig in der Schweiz niedergelassen ist, (ii) die Verteidigung der Menschenrechte ihrer Mitglieder innerhalb ihres Hoheitsgebiets verfolgt und (iii) nachweisen konnte, dass sie diese Personen auch wirklich repräsentieren kann. Daher könne der Verein im Namen der unmittelbaren Opfer des Klimawandels Beschwerde erheben und so ausnahmsweise eine Verletzung von Art. 8 EMRK, der grundsätzlich nur natürlichen Personen Schutz vermittele, geltend machen. Der EGMR stärkt damit die Möglichkeit von Verbandsklagen im Bereich der Climate Change Litigation.

Auch die weitere Begründung des EGMR lässt mit Blick auf zukünftige Verfahren zum Klimaschutz aufhorchen: Der EGMR stellte eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren aus Art. 6 EMRK fest. Im Instanzenzug hätten die Schweizer Gerichte nicht hinreichend begründet, weshalb sie die Begründetheit der Klage der Klimaseniorinnen nicht geprüft haben. Vielmehr hätten sie die zwingenden wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Klimawandel bei ihrer Prüfung der Begründetheit berücksichtigen und die Klage dahingehend ernstnehmen müssen.

Zwei weitere „Klimaklagen“ als unzulässig erachtet

In den zwei weiteren Entscheidungen des EGMR vom 09.04.2024 wird sichtbar, dass trotz des Urteils gegen die Schweiz grundsätzlich hohe Hürden für (extraterritoriale) „Klimaklagen“ bestehen.

So scheiterte die Beschwerde des ehemaligen – mittlerweile weggezogenen – Bürgermeisters der nordfranzösischen Küstengemeinde Grande-Synthe an der erforderlichen Opfereigenschaft (Urteil vom 09.04.2024, Carême v. France, Application no. 7189/21).

Auch die „Klimaklage“ sechs junger Portugiesen gegen diverse europäische Länder (Duarte Agostinho and Others v. Portugal and 32 Others, Application no. 39371/20) erachtete der EGMR für unzulässig. Diese hatten neben allen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union auch Norwegen, Großbritannien, die Türkei, die Schweiz und Russland verklagt. Hinsichtlich der Beschwerde gegen Portugal fehle es an der erforderlichen Rechtswegerschöpfung: Die Kläger hatten die ihnen in Portugal zur Verfügung stehenden Rechtsmittel nicht ausgeschöpft (Art. 35 EMRK), bevor sie den EGMR anriefen. Die Beschwerde gegen die anderen Staaten sei insofern unzulässig, als Staaten nach Art. 1 EMRK die Rechte der EMRK nur in ihrem eigenen Gebiet gewährleisten müssten. Zwar könnten Menschenrechte ausnahmsweise auch extraterritorial angewendet werden, in diesem Fall hielt der EGMR dies aber nicht für begründet. Stattdessen sei eine unbegrenzte Ausweitung staatlicher extraterritorialer Verantwortung zu verhindern.

Ist das Urteil gegen die Schweiz ein Präzedenzfall?

Auch wenn das Urteil im Fall der Klimaseniorinnen zunächst nur die Schweiz bindet (Art. 46 EMRK) könnte es dennoch international rechtliche und politische Signalwirkung entfalten.

Die Bestätigung der Zulässigkeit der Verbandsbeschwerde der Klimaseniorinnen könnte NGOs bestärken, künftig auch in Deutschland nicht nur Klagen von Individualpersonen zu unterstützen, sondern selbst zu klagen. Allerdings hat auch der EGMR deutlich gemacht, dass Popularbeschwerden im Bereich Klima keine Aussicht auf Erfolg haben. Und die Schwelle für die Annahme einer Opfereigenschaft – und damit der Beschwerdebefugnis – ist bei „Klimaklagen“ angesichts der unbestimmten Anzahl betroffener Personen besonders hoch.

Das Urteil des EGMR gegen die Schweiz zeigt weiter, dass Staaten die Ziele des Pariser Abkommens ernst nehmen und gesetzlich umsetzen müssen. Der EGMR setzt damit seine Rechtsprechung fort, nach der Staaten auf Basis der Europäischen Menschenrechtskonvention zur Erhaltung einer „gesunden Umwelt“ verpflichtet sind. In Deutschland hat das Bundesverfassungsgericht diesen Grundsatz bereits in seiner Entscheidung vom 21.03.2021 zum Klimaschutzgesetz auf Basis des deutschen Grundgesetzes festgestellt und insbesondere durch den Rechtsgedanken einer intertemporalen Freiheitssicherung einen umfassenderen Klimaschutz des Gesetzgebers zur Sicherung zukünftiger Generationen angemahnt.

Schließlich könnte auch das „Private Enforcement“ im Bereich Klimaschutz, also Klagen gegen privatwirtschaftliche Akteure mit dem Ziel von mehr Anstrengung im Bereich Klimaschutz, Aufwind durch das Urteil des EGMR erfahren. Indes ist nicht ersichtlich, was sich durch die Urteile des EGMR an der bisherigen Rechtsprechung der deutschen Zivilgerichte ändern sollte. Bisher urteilten deutsche Zivilgerichte im Kern, der Grundsatz der Gewaltenteilung berufe den Gesetzgeber zu mehr Anstrengungen im Bereich Klimaschutz. Es sei nicht Aufgabe der Judikative einzelne private Akteure zu Anstrengungen zu verurteilen, die legislativ (bisher) nicht von ihnen gefordert werden. Es bleibt daher abzuwarten, inwieweit die Entscheidung des EGMR gegen die Schweiz auch den Zivilklagen in Deutschland und Europa neuen Rückenwind verschaffen kann.

Derzeit deutet sich im Ergebnis eher nicht an, dass die Entscheidung des EGMR zu einer Neubewertung der rechtlichen Hürden für Kläger von Klimaklagen im deutschen Zivilprozess führt. Zumal eine solche Neubewertung bisher auch nach der wegweisenden Entscheidung des BVerfG vom 21.03.2021 ausblieb. Jedenfalls lässt aufhorchen, dass der EGMR die zu geringe Prüfungstiefe der Schweizer Gerichte bemängelt und festhält, dass sich nationale Gerichte zukünftig – zumindest in Verfahren gegen einen Staat – mit den wissenschaftlichen Beweisen für den Klimawandel detaillierter auseinandersetzen müssen. Der deutsche Gesetzgeber wird also – ebenso wie in den anderen Staaten des Europarats – weiterhin prüfen müssen, ob die geltenden Regeln ausreichen, um die Klimaschutzziele zu erreichen.

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