EuGH zur Zulässigkeit von Kartell-Sammelklagen und effektivem Rechtsschutz
Am 28. Januar 2025 hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens des Landgerichts Dortmund (Rechtssache C-253/23 – ASG 2) darüber entschieden, inwieweit ein nationales Verbot von Sammelklage-Inkassomodellen mit Unionsrecht vereinbar ist. Unter engen Voraussetzungen verlangt der Effektivitätsgrundsatz, dass Geschädigte Ansprüche gemeinsam in Kollektivverfahren geltend machen können.
Der EuGH folgt weitgehend den Schlussanträgen von Generalanwalt Szpunar (hierzu unsere Analyse). Dabei hat der Große Senat zusätzliche Leitlinien zur Konkretisierung des unionsrechtlichen Effektivitätsgrundsatzes entwickelt. Rechtsschutzsysteme der Mitgliedsstaaten müssen jedenfalls einen wirksamen Zugang zum Recht geben. Die Verantwortung, die Grenzen von Sammelklage-Inkassomodellen im Kartellschadensersatz zu prüfen und zu definieren, belässt der EuGH bei den nationalen Gerichten.
Hintergrund
Dem Urteil des EuGH ging ein Vorabentscheidungsersuchen des Landgerichts Dortmund voraus: Eine Inkassodienstleisterin machte treuhänderisch abgetretene Kartellschadensersatzansprüche für Sägewerke geltend. Das Landgericht zweifelte aufgrund damaliger Instanzrechtsprechung daran, ob Kartellschadensersatzansprüche mittels Abtretungsmodellen gebündelt geltend gemacht werden könnten, und wollte vom EuGH wissen, ob es gegen Unionsrecht verstößt, wenn das deutsche Rechtsdienstleistungsgesetz (RDG) in Kartellschadensersatzfällen ein solches Sammelklage-Inkasso verbietet. Weite Teile der Vorlagefragen sah der EuGH bereits als unzulässig an und entschied nur für den Fall einer sogenannten Stand-Alone-Klage, bei der sich Kläger nicht bereits auf die behördliche Feststellung eines Kartellverstoßes stützen können, sondern diesen selbst darlegen und beweisen müssen.
Bedeutung und Konkretisierung des Effektivitätsgrundsatzes
Der EuGH bestätigt zunächst, dass es keine Unionsvorschriften gibt, die die Einführung von Sammelklagen im Bereich des Kartellschadensersatzes vorschreiben. Stattdessen ist es Sache der nationalen Gesetzgeber, ihre Rechtsschutzsysteme auszugestalten und damit die Verfahrensmodalitäten für die gerichtliche Durchsetzung von Unionsrechts festzulegen. Allerdings setzen der Effektivitätsgrundsatz und das Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz Grenzen, die der EuGH wie folgt konkretisiert: Ein nationales Verbot von Inkasso-Sammelklagen ist dann unvereinbar mit dem Effektivitätsgrundsatz, wenn
- erstens alternative kollektive Rechtsschutzinstrumente den Geschädigten keine wirksame Durchsetzung ihrer Schadensersatzansprüche ermöglichen, und
- zweitens mit einer individuellen Klage Hindernisse einhergehen, die die Anspruchsdurchsetzung unmöglich machen oder übermäßig erschweren.
Prüfung durch nationale Gerichte
Ob die vorstehenden Bedingungen im Dortmunder Fall erfüllt sind, beantwortet der EuGH jedoch – zum Unmut mancher Beobachter – nicht selbst. Der EuGH erörtert jedoch die Argumente gegen die Prämissen des Landgerichts Dortmund, wonach deutsches Recht vermeintlich ein Sammelklage-Inkasso im Kartellschadensersatz verbieten, keine alternativen Kollektivklagen vorsehen und ein Desinteresse an einer individuellen Klage begründen soll, überlässt ihre Überprüfung aber den nationalen Gerichten. Da es nicht Aufgabe des EuGH ist, den Inhalt nationalen Rechts festzustellen, dürfte ihm an dieser Stelle auch keine andere Wahl bleiben.
Kein vorschneller Eingriff in nationales Rechtsschutzsystem und keine Pflicht zur Einführung von Sammelklagen
Der EuGH gibt den nationalen Gerichten aber Leitlinien an die Hand. Neben der bereits aus früheren Urteilen und den Schlussanträgen bekannten Anweisung, sämtliche Modalitäten des nationalen Rechtsschutzsystems „in ihrer Gesamtheit“ und „sämtliche rechtliche und tatsächliche Umstände des Einzelfalls“ zu würdigen, betont der EuGH ergänzend, dass ein Unionsrechtsverstoß nicht vorschnell angenommen werden kann, sondern die Schwelle hoch ist. Zwar erkennt der EuGH an, dass die kollektive Bündelung von Kartellansprüchen ihre Durchsetzung erleichtern kann. Er stellt jedoch zugleich klar: Allein die Komplexität und Kosten von Kartellschadensersatzklagen lassen für sich genommen nicht den Schluss zu, den Geschädigten wäre eine Individualklage nicht möglich. Vielmehr bedarf es dafür konkreter Erschwernisse im nationalen Recht, die den Weg zum Recht faktisch versperren. Zudem wird im Rahmen einer Gesamtwürdigung auch zu berücksichtigen sein, welche prozessualen und materiellrechtlichen Erleichterungen dem Kläger darüber hinaus zur Seite stehen (vgl. Weitere Stärkung der Privaten Rechtsdurchsetzung). Kurz gesagt: Die allgemeine Einführung von Kartell-Sammelklagen gebietet der Effektivitätsgrundsatz nicht.
Rechtfertigung von Grenzen kollektiver Rechtsdurchsetzung durch legitime Schutzwecke
Selbst wenn im Einzelfall die kollektive Rechtsdurchsetzung das einzige effektive Instrument zur Rechtsdurchsetzung darstellen sollte, bekräftigt der EuGH – in Einklang mit Generalanwalt Szpunar –, dass ein nationales Inkassoverbot dennoch zum Schutz der Rechtssuchenden gerechtfertigt sein kann. Als Rechtfertigungsgründe nennt der EuGH die Sicherung der „Qualität“ von Dienstleistern, die „Objektivität und Verhältnismäßigkeit“ ihrer Vergütungen sowie die Verhinderung von „Interessenkonflikten“ und „Missbräuchen“. Der EuGH macht damit deutlich, dass effektiver Rechtsschutz keinesfalls einen unregulierten Inkassomarkt fordert, und erst recht nicht dazu dient, Rechtsdienstleistern, Prozessfinanzierern und spezialisierten Klägerkanzleien eine Einnahmequelle zu sichern. Dabei gibt der EuGH zu erkennen, dass nationale Regelungen, die auf solche Schutzzwecke abzielen, wie beispielsweise § 4 RDG zur Vermeidung von Interessenkonflikten, unionsrechtlich nicht zu beanstanden sind. Dieser Gedanke wird auch auf andere Grenzen kollektiver Rechtschutzinstrumente anzuwenden sein.
Reichweite der Entscheidung und praktische Hinweise
Obwohl der EuGH seine Ausführungen im konkreten Fall ausdrücklich auf Stand-Alone-Klagen im Bereich des Kartelldeliktsrechts beschränkt, dürften die von ihm entwickelten Leitlinien zum Zusammenspiel des unionsrechtlichen Effektivitätsgrundsatzes und dem nationalen Rechtsschutzsystem weiterreichende Bedeutung haben. Die Einhaltung des Effektivitätsgrundsatzes ist logisch nicht auf Kartell-Sammelklagen begrenzt, sondern kann in jeglichen Rechtsstreitigkeiten relevant werden, die die private Durchsetzung von Unionsrecht betreffen. Aus vergleichbaren Erwägungen hat der EuGH auch für Datenschutzverstöße bereits eine weitere Verbandsklagebefugnis angenommen (hierzu mehr hier).
Ausgehend von den aufgestellten Leitlinien können Gerichte dazu aufgerufen sein, zu prüfen, ob der bestehende individuelle und kollektive Rechtsschutz im jeweiligen Mitgliedsstaat den Anforderungen des Effektivitätsgrundsatzes gerecht wird. Dabei ist hervorzuheben, dass im Zuge der Umsetzung der Verbandsklagerichtlinie eine zunehmend größere Zahl an Rechtsschutzinstrumenten zur Verfügung steht.
Auch das deutsche Rechtsschutzsystem ist seit dem 13.10.2023 um eine allgemeine kollektive Leistungsklage (Abhilfeklage) für Verbraucher und kleine Unternehmen ergänzt. Insoweit stellt es eine wirksame Alternative bereit. Zwar gilt die Abhilfeklage nicht für größere Unternehmen, bei denen jedoch von vornherein angesichts regelmäßig höherer Streitwerte zweifelhaft erscheint, inwieweit diesen Rechtsschutz ohne Kollektivverfahren verwehrt wird, zumal wirtschaftlichen Härten durch eine Streitwertherabsetzung nach § 89a Abs. 1 GWB vorgebaut werden kann. Auch ermöglicht die einfache Streitgenossenschaft (§§ 59, 60 ZPO) das Zusammenwirken mehrerer Geschädigter, um gemeinschaftlich Ansprüche zu verfolgen. Dass es auf dieser Grundlage faktisch unmöglich wäre, in Deutschland Ansprüche zu verfolgen, und gerechtfertigte regulatorische Grenzen des RDG außer Acht zu lassen wären, erscheint eher fraglich.
Bereits an den ersten Reaktionen ist jedoch erkennbar, dass die Entscheidung des EuGH Finanzierer und Dienstleiter darin bestärkt, Sammelklagen gegen Unternehmen zu entwickeln. Da der EuGH die Rolle kollektiver Rechtsdurchsetzung für ein effektives Private Enforcement von Europarecht insgesamt bekräftigt, stärkt dies den europaweiten Trend zu einer größeren Zahl von Kollektivverfahren gegen Unternehmen.
In unserem aktuellen Competition Outlook 2025, der zentrale kartell- und wettbewerbsrechtlichen Entwicklungen vorstellt und prägende Themen in übersichtlichem Format für Sie zusammenfasst, nehmen wir ebenfalls Bezug zum Urteil des EuGH inwieweit ein nationales Verbot von Sammelklage-Inkassomodellen mit Unionsrecht vereinbar ist.