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Fremdpersonal­einsatz mit Auslands­bezug: EuGH konkreti­siert Möglich­keit zum Widerruf der A1-Beschein­igung

25.01.2024

Mit Urteil vom 16. November 2023 hat der EuGH die Möglichkeiten zum Widerruf von A1-Bescheinigungen konkretisiert. Die in der Praxis damit operierenden Arbeitgeber sollten vorsorgen, denn ein Widerruf hat weitreichende Konsequenzen.

Hintergrund

Bei einem grenzüberschreitenden Einsatz von Personal stellt sich oft die Frage nach der korrekten sozialversicherungsrechtlichen Einordnung und respektive der damit korrespondierenden Beitragspflicht. Handelt es sich um einen innereuropäischen Personaleinsatz, ist die Bewertung regelmäßig einfach: Sind die Personen nur vorübergehend in einem anderen Land tätig (Einsatzstaat) und können nachweisen, dass sie auch während dieser Tätigkeit weiterhin dem Sozialversicherungsrecht des Landes unterfallen, in welchem sie angestellt sind (Herkunftsstaat), entstehen keine Beitragspflichten im Sozialversicherungssystem des Einsatzstaates.

Dem Nachweis der bestehenden Einordnung in ein System der sozialen Sicherung im Herkunftsstaat dient die sog. A1-Bescheinigung, welche von den Sozialversicherungsträgern der Mitgliedstaaten ausgestellt wird.

Mit einem Urteil aus dem Jahr 2018, welches wir für Sie in der Vergangenheit bereits in einem Beitrag eingeordnet haben, äußerte sich der EuGH zur Bindungswirkung einer solchen A1-Bescheinigung und stellte fest:

  • Die sozialversicherungsrechtlichen Feststellungen in einer A1-Bescheinigung sind sowohl für andere Sozialversicherungsträger als auch Gerichte bindend.
  • Solange eine solche A1-Bescheinigung von dem zuständigen Träger nicht widerrufen oder für ungültig erklärt wird, bleibt die Bescheinigung verbindlich, selbst wenn das Vorliegen der der Ausstellung zugrundeliegenden Voraussetzung fraglich ist oder nachträglich Umstände eintreten, die Zweifel begründen.
  • Die Bindungswirkung gilt auch, wenn die Bescheinigung rückwirkend ausgestellt wird.

Da somit etwaige Begehrlichkeiten von Sozialversicherungsträgern des Einsatzstaates allein durch den Vorhalt einer A1-Bescheinigung abgewehrt werden konnten, ist es nicht verwunderlich, dass sich die A1-Bescheinigung in der Praxis großer Beliebtheit erfreut und als probates Mittel zur Erzeugung von mehr Rechtssicherheit bei grenzüberschreitenden Personaleinsätzen zu Recht gerne empfohlen wird.

Wie aufgezeigt konstatierte der EuGH die weitgehende Bindungswirkung der Bescheinigung, solange diese nicht vom zuständigen Sozialversicherungsträger widerrufen wird. Genau hierzu äußerte sich der EuGH jetzt, was Anlass zu diesem Update gibt.

Die Entscheidung des Gerichts

Der EuGH stellt nunmehr fest, dass:

  • Der die A1-Bescheinigung ausstellende Versicherungsträger jederzeit zum Widerruf der Bescheinigung befugt ist.
  • Der Widerruf ohne das Durchlaufen eines Dialog- und Vermittlungsverfahrens mit dem Sozialversicherungsträger eines anderen Staates erfolgen kann.
  • Der Widerruf rückwirkend erfolgen kann.

Das Gericht begründet seine Entscheidung damit, dass der verbindliche Charakter der A1-Bescheinigung auf dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit nach Art. 4 Abs. 3 EUV beruhe, welcher wiederum den Grundsatz gegenseitigen Vertrauens impliziere. Danach muss der Aussteller der Bescheinigung den Sachverhalt sorgfältig prüfen und ordnungsgemäß beurteilen. Die Sozialversicherungsträger der anderen Mitgliedstaaten dürften erwarten, dass der Aussteller seiner Pflicht zur korrekten Rechtsanwendung nachkommt. Da sich ein Sachverhalt jedoch im Laufe der Zeit entscheidend verändern könne, implizierten die vorgenannten Grundsätze auch, dass der Aussteller während der gesamten Zeit der Ausübung die Richtigkeit der Angaben und Feststellungen zu prüfen und die A1-Bescheinigung ggfs. zu widerrufen habe, sollte er feststellen, dass die Ausstellungsvoraussetzungen nicht (mehr) vorliegen.

Die insoweit zentrale Norm, Art. 5 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009, schreibe in einem solchen Fall nicht vor, dass vor dem Widerruf ein Dialog- und Vermittlungsverfahren durchlaufen werden müsse, weshalb eine dahingehende Verpflichtung nicht bestehe. Dies stehe auch im Einklang mit dem Sinn und Zweck des Verfahrens. Dieses stelle ein Mittel dar, welches geschaffen wurde, um Streitigkeiten zwischen Sozialversicherungsträgern der Mitgliedstaaten beizulegen. Liegen solche Streitigkeiten nicht vor, weil der ausstellende Sozialversicherungsträger autonom aufgrund veränderter Umstände den Widerruf erklärt, bestehe keine Veranlassung zur Durchführung eines Dialog- und Vermittlungsverfahrens.

Letztlich sei der widerrufende Träger zwar nicht zur vorherigen Konsultation verpflichtet, die Grundsätze der loyalen Zusammenarbeit legten ihm indes die Pflicht auf, sowohl die betroffenen Personen als auch die involvierten anderen Sozialversicherungsträger schnellstmöglich über den Widerruf zu Informieren und alle Informationen und Daten zu übermitteln, welche für die weitere sozialversicherungsrechtliche Bewertung des Sachverhaltes erforderlich sind.

Widerruf hat weitreichende praktische Konsequenzen

Das Urteil dürfte die Praxis aufhorchen lassen, indem es deutlich vor Augen führt, dass die Bindungswirkung einer A1-Bescheinigung kein unumstößlicher Fakt ist und ein Widerruf mit weitreichenden Konsequenzen einhergeht. Der (nachträgliche) Wegfall der Bindungswirkung der A1-Bescheinigung wird häufig dazu führen, dass die eingesetzten Personen nicht mehr dem Sozialversicherungssystem des Herkunftsstaates unterfallen, dafür jedoch dem des Einsatzstaates.

Es fällt sicher nicht schwer, sich die praktischen Schwierigkeiten auszumalen, die mit der rückwirkenden Aufarbeitung dieser Beziehungen einhergehen. Hinzu kommen unter Umständen hohe finanzielle Belastungen, die aus Nachforderungen des Sozialversicherungsträgers des Einsatzstaates hervorgehen. Oft gepaart – so wie in Deutschland – mit Regelungen, die nur einen begrenzten Rückgriff bei den Arbeitnehmern erlauben und die Beitragslast somit im Zweifel vollständig dem Arbeitgeber auferlegen. Zwar wird dem regelmäßig ein Erstattungsanspruch gegen den Sozialversicherungsträger des Herkunftsstaates gegenüberstehen, nicht bestehende Verrechnungsmöglichkeiten, Divergenzen in den jeweiligen Beitragssätzen sowie Eigenheiten der jeweils zu durchlaufenden Verfahren sorgen jedoch dafür, dass dies vielfach keine entscheidende Entlastung sein dürfte.

Vor diesem Hintergrund ist den in der Praxis mit A1-Bescheinigungen operierenden Arbeitgebern zwar nicht zu einer Abkehr von der Bescheinigung zu raten. Es sollte jedoch in jedem Fall eine detaillierte und fundierte präventive Prüfung und Dokumentation erfolgen, um im Rahmen der eigenen Möglichkeiten sicherzustellen, dass die Voraussetzungen für die Erteilung einer A1- Bescheinigung tatsächlich vorliegen. Dies wird sich – wenn nicht bisher bereits abgebildet – in Zukunft in den entsprechenden Freigabeprozessen wiederfinden müssen. Zudem ist inländischen Auftraggebern zu empfehlen, sich in den entsprechenden Vertragsgestaltungen durch Mitteilungspflichten und Kontrollrechte rechtlich sowie durch korrespondierende Vergütungsregelungen kommerziell abzusichern.

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