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Höchst­überlassungs­dauer in der Leih­arbeit

11.12.2020

Vier Jahre nach der Einführung der in § 1 Abs. 1b S. 1 AÜG normierten Höchstüberlassungsdauer verfestigen sich immer mehr die bereits im Gesetzgebungsprozess geäußerten europarechtlichen und arbeitsmarktpolitischen Bedenken.

Nicht nur das wegweisende EuGH-Urteil vom 14.10.2020, Az.: C-681/18, stellt die Existenzberechtigung der Höchstüberlassungsdauer in Frage, sondern auch ein vernichtendes Fazit des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln (IW) in seinem kürzlich erschienenen Report.

So gelangt das IW in dem Report „IW-Zeitarbeiterbefragung 2019“ zu dem Ergebnis, dass die Höchstüberlassungsdauer die längerfristigen Perspektiven der Zeitarbeitskräfte eher einschränke, als sie zu fördern. Sie gehe häufig mit ungewollten Einsatzabmeldungen einher und erhöhe dadurch das Risiko, in die Arbeitslosigkeit abzurutschen. Weil dies in Zeiten der COVID-19-Pandemie umso mehr gelte, plädiert das IW für eine temporäre Aussetzung der Höchstüberlassungsdauer zumindest für die Dauer der Pandemie und die ersten Monate der Erholungsphase.

Jenseits dieser arbeitsmarktpolitischen Bewertung erscheint unter Zugrundelegung der neuen EuGH-Rechtsprechung überdies fraglich, ob die Höchstüberlassungsdauer nach § 1 Abs. 1b S. 1 AÜG zukünftig Bestand haben kann. Denn in seinem einleitend erwähnten Urteil stellt der EuGH seine Sichtweise zu den Anforderungen an den missbräuchlichen Einsatz von Leiharbeit teilweise klar. Danach müsse der „vorübergehende“ Charakter der Leiharbeit gewahrt werden.

Vorlagefrage aus Italien

Der Entscheidung des EuGH lag eine Vorlagefrage des Tribunale ordinario di Brescia, einem italienischen Gericht der ersten Instanz, zugrunde. Dieses musste über die Zulässigkeit der Leiharbeit in einem Fall entscheiden, in dem der klagende Leiharbeitnehmer im Zeitraum vom 03.03.2015 bis zum 30.11.2016 mittels acht aufeinanderfolgender Arbeitnehmerüberlassungsverträge und insgesamt 17 Verlängerungen beim beklagten Entleiher eingesetzt wurde. Im italienischen Recht gibt es weder Vorgaben für den rechtmäßigen Einsatz von Leiharbeitnehmern noch Beschränkungen der aufeinanderfolgenden Überlassung desselben Leiharbeitnehmers bei demselben Entleiher. Das vorlegende Gericht wollte wissen, ob die italienische Rechtslage Art. 5 Abs. 5 der RL 2008/104/EG entgegensteht.

Stellungnahme des Gerichts

Der EuGH kommt in seinem Urteil zu dem Ergebnis, dass die Mitgliedstaaten gesetzgeberische Maßnahmen ergreifen müssen, um den „vorübergehenden“ Charakter der Leiharbeit zu wahren. Hierzu zwinge Art. 5 Abs. 5 S. 1 der RL 2008/104/EG. Ob ein missbräuchlicher Einsatz von Leiharbeit vorliegt, müsse sowohl arbeitsplatz- als auch arbeitnehmerbezogen beurteilt werden.

Der EuGH stellt fest, dass die RL selbst keine bestimmten Maßnahmen vorsieht und es daher keine zwingenden Vorgaben für die Regelungen der Mitgliedstaaten gebe. Aus Art. 5 Abs. 5 RL 2008/104/EG ergebe sich jedoch ein Rahmen für die zu ergreifenden Maßnahmen:

  • Erstens müssten die Maßnahmen die missbräuchliche Anwendung der in Art. 5 RL 2008/104/EG normierten Ausnahmen vom Grundsatz der Gleichbehandlung verhindern.
  • Zweitens müssten durch sie insbesondere aufeinanderfolgende Überlassungen, durch die die Bestimmungen der Richtlinie insgesamt umgangen werden, unterbunden werden.

Aus diesem Umgehungsverbot ergebe sich gleichzeitig auch das Gebot, dass die Mitgliedstaaten dafür Sorge zu tragen haben, dass Leiharbeit bei demselben Entleiher nicht zu einer Dauersituation für einen Leiharbeitnehmer wird. Denn die Rechtsbeziehung zum Entleiher sei ihrer Natur nach als „vorübergehend“ definiert.

Der unbestimmte Rechtsbegriff „vorübergehend“ wird von der RL 2008/104/EG, die keine starre zeitliche Grenze für die Dauer der Überlassung kennt, mehrfach zur Charakterisierung der Leiharbeit herangezogen (vgl. etwa Art. 3 Abs. 1 RL 2008/104/EG). Der EuGH führt zu diesem aus, dass es etwa unzulässig sei, wenn ein Beschäftigter bei einem Entleiher so lange tätig ist, dass dies „vernünftigerweise“ nicht mehr als vorübergehend betrachtet werden kann. Der Interessenausgleich zwischen dem Flexibilitätsbedarf der Unternehmen und den Bedürfnissen der Beschäftigen, den die Richtlinie erreichen will (sog. Flexicurity-Grundsatz), werde dann zu Lasten der Beschäftigten unterminiert.

Außerdem setze das Merkmal „vorübergehend“ eine sowohl arbeitsplatz- als auch arbeitnehmerbezogene Beurteilung voraus. Es müsse bei der Prüfung der Zulässigkeit berücksichtigt werden, ob der Entleiher für die Besetzung des jeweiligen Arbeitsplatzes auf eine Reihe aufeinanderfolgende Leiharbeitsverträge zurückgreift. Dies gelte umso mehr, wenn nicht wechselnde, sondern derselbe Leiharbeitnehmer auf dem Arbeitsplatz eingesetzt wird.

Auswirkungen auf die deutsche Rechtslage und Ausblick

Die 2017 mit der AÜG-Reform eingeführte 18-monatige Höchstüberlassungsdauer, die rein arbeitnehmerbezogen ist, ist bei Anlegung der vom EuGH aufgestellten Grundsätze wohl unionsrechtswidrig. Europarechtlich indiziert der Dauereinsatz von Leiharbeitnehmern einen Rechtsmissbrauch im Sinne von Art. 5 Abs. 5 S. 1 RL 2008/104/EG. Dabei differenziert das Europarecht nicht, ob der betreffende Arbeitsplatz mit einem konkreten Leiharbeitnehmer oder wechselnden Leiharbeitnehmern besetzt wird. Dagegen sieht die deutsche Reglung eine individuelle Einsatzlimitierung vor. Die Höchstüberlassungsdauer knüpft nach dem Wortlaut des § 1 Abs. 1b S. 1 AÜG an die Person des Leiharbeitnehmers und nicht an den Arbeitsplatz an. Damit gewährleistet die Vorschrift nicht in hinreichendem Maße die Verhinderung der Deckung von dauerhaftem Beschäftigungsbedarf durch Einsatz von Leiharbeit

Der EuGH wird sich aber auch noch in näherer Zukunft konkret zur deutschen Rechtslage äußern müssen. Denn am 03. Juni 2020 hat das LAG Berlin-Brandenburg zu der Frage der Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs „vorübergehend“, der in Richtlinie mehrfach zu Charakterisierung der Leiharbeit herangezogen wird, beim EuGH ein Vorabentscheidungsersuchen (Az.: C-232/20) eingereicht.

Arbeitsrecht

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