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Europäische Kommission erläutert Reichweite des neuen Verweisungs­systems für Zusammenschluss­vorhaben

06.02.2023

Die Europäische Kommission („Kommission“) hat kürzlich ein Dokument mit Fragen und Antworten (Q&A) veröffentlicht, das praktische Informationen über die Umsetzung ihrer Leitfaden-Mitteilung (2021) zur Anwendung des Verweisungssystems nach Artikel 22 der Europäischen Fusionskontrollverordnung („FKVO“) enthält. Diese Fragen und Antworten sorgen für mehr Klarheit in Bezug auf die Bewertung von Fällen, die für eine Verweisung in Frage kommen und zur Zusammenarbeit der Kommission mit den nationalen Wettbewerbsbehörden.

I. Hintergrund

Gemäß Artikel 22 der FKVO kann eine nationale Wettbewerbsbehörde ein Zusammenschlussvorhaben an die Kommission verweisen, wenn es zwei Voraussetzungen erfüllt: Das Vorhaben muss (i) den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigen und (ii) drohen, den Wettbewerb im Hoheitsgebiet des bzw. der antragstellenden Mitgliedstaaten erheblich zu beeinträchtigen.

Ursprünglich sollte der Verweisungsmechanismus nach Artikel 22 FKVO den Mitgliedstaaten, die über kein nationales Fusionskontrollsystem verfügten, die Möglichkeit geben, der Kommission als problematisch erachtete Transaktionen zu melden. Im Laufe der Zeit verlor Artikel 22 FKVO seine Bedeutung, da alle Mitgliedstaaten mit Ausnahme Luxemburgs ein Fusionskontrollsystem einführten. Darüber hinaus riet die Kommission davon ab, Anträge auf Verweisung von Zusammenschlüssen zu stellen, wenn diese nicht zumindest die Schwellenwerte der Fusionskontrolle im verweisenden Mitgliedstaat erreichten.

Im März 2021 änderte die Europäische Kommission diese Vorgehensweise jedoch und führte ihren neuen Ansatz in ihrer Leitfaden-Mitteilung (2021) näher aus. Die Kommission ermutigt nun nationalen Wettbewerbsbehörde aktiv dazu, bestimmte Transaktionen auch dann zu verweisen, wenn die Schwellenwerte der Fusionskontrolle im jeweiligen Mitgliedstaaten nicht erreicht werden. Der Hintergrund für diesen Wandel liegt in der (empfundenen) Durchsetzungslücke hinsichtlich bestimmter Zusammenschlüsse, insbesondere im Digital- und Pharmasektor. Denn die Auswirkung der Übernahme eines hochinnovativen Unternehmens auf den Wettbewerb wird dann nicht durch eine Wettbewerbsbehörde in der EU untersucht, wenn die zumeist umsatzbasierten Anmeldeschwellen in den jeweiligen Mitgliedstaaten durch die Zusammenschlussbeteiligten nicht erreichen werden (z.B. weil die innovativen Unternehmen derzeit noch zu wenig Umsatz erzielen). Darüber hinaus verpflichtet der neue Digital Markets Act sog. Gatekeeper, die Europäische Kommission über relevante Zusammenschlüsse zu informieren. Diese Informationen können dann von der Kommission genutzt werden, um die Mitgliedstaaten zu bitten, diese Zusammenschlüsse zu verweisen.

Während das Bundeskartellamt und einige weitere nationalen Wettbewerbsbehörden Bedenken gegen den neuen Mechanismus geäußert und davon abgesehen haben, Fälle zu verweisen, in denen die Zuständigkeitsschwellen der nationalen Fusionskontrollvorschriften nicht erreicht werden, hat das Gericht der Europäischen Union keine Einwände gegen die neue Vorgehensweise der Kommission erhoben (der Fall Illumina/GRAIL ist jedoch derzeit beim Europäischen Gerichtshof anhängig). In der Zwischenzeit hat die Kommission Verweisungsanträge nach Art. 22 FKVO in mindestens vier Fällen angenommen (Illumina/Illumina/GRAIL, Meta/Kustomer, Viasat/Inmarsat und Cochlear/Oticon Medical).

II. Das neue Q&A-Dokument

Das neue Verweisungssystem hat zu einer gewissen Unsicherheit bei der Planung von Transaktionen geführt, da es von der bisherigen Praxis abweicht, sich auf klare Schwellenwerte für die Zuständigkeit zu stützen, anhand derer beurteilt werden kann, ob ein Zusammenschlussvorhaben anmeldepflichtig ist oder nicht.

In dem neuen Q&A-Dokument gibt die Europäische Kommission nun einen Einblick in die praktische Umsetzung des neuen Verweisungssystems.

1. Wie ist das Risiko einer Verweisung nach Artikel 22 zu beurteilen?

Im Allgemeinen sind Verweisungen nach Artikel 22 nicht auf einen bestimmten Wirtschaftssektor beschränkt. Der Schwerpunkt der Kommission liegt jedoch auf der Digital- und Gesundheitsbranche (Pharma, Biotechnologie und Medizinprodukte). Allen Beispielen ist bisher gemeinsam, dass der Umsatz des Zielunternehmens dessen tatsächliches oder künftiges Wettbewerbspotenzial nicht angemessen widerspiegelt, was sich in einem vergleichsweise hohen Geschäftswert für ein Zielunternehmen mit geringem oder gar keinem Umsatz zeigen kann.

Darüber hinaus ist die Kommission daran interessiert, so genannte „Killer-Acquisitions“ zu prüfen und zu verhindern. Dabei handelt es sich um Transaktionen zwischen Wettbewerbern, bei denen das Zielunternehmen entweder schnell wächst oder kurz vor einem Durchbruch steht und das Geschäftsmodell des etablierten Unternehmens bedrohen könnte. Vertikale Zusammenschlussvorhaben, bei denen das Zielunternehmen das Potenzial hat, einen sehr wertvollen Beitrag zum Geschäftsmodell des etablierten Unternehmens zu leisten, haben ebenfalls die Aufmerksamkeit der Europäischen Kommission auf sich gezogen.

Die Kommission wird die Ablehnung eines Verweisungsantrags in Erwägung ziehen, wenn das Vorhaben bereits in Mitgliedstaaten angemeldet wurde, die keinen Verweisungsantrag gestellt haben oder sich einem solchen nicht anschließen.

2. Wie kann man sich als Partei eines Zusammenschlussvorhabens an die Kommission wenden?

Die Parteien können sich direkt an die nationalen Wettbewerbsbehörden wenden, wenngleich die Kommission zum Ausdruck gebracht hat, dass sie dazu raten würde, dass sich die Unternehmen unmittelbar an die Kommission wenden, indem sie einen so genannten „Case team allocation request“ stellen (hierbei handelt es sich um ein Standardformular, in dem allgemeine Informationen über die Unternehmen, die Produkte, das Ausmaß des Wettbewerbs zwischen den am Zusammenschluss beteiligten Unternehmen, etc., abgefragt werden). Der Grund dafür ist, dass die Kommission sich in ihrer zentralen Rolle selbst für besser geeignet hält, den Unternehmen zu einem Verweisungsrisiko Auskunft zu erteilen.

Die Kommission setzt hierfür voraus, dass in einem  informellen Briefing-Dokument weitere fundierte Informationen zu dem Zusammenschlussvorhaben beigebracht werden. Die Informationen umfassen eine kurze Beschreibung der Zusammenschlussbeteiligten und des Zusammenschlussvorhabens, aber ebenso eine detaillierte Bewertung der relevanten Märkte und der Wettbewerbssituation (eine vorläufige Liste findet sich auf S. 6 des Q&A-Dokuments).

 „Frühzeitige Mitteilungen“ der Kommission, dass eine geplante Transaktion ihres Erachtens für eine Verweisung nicht in Betracht kommt, sind nicht bindend, und es gibt keinen rechtlichen Zeitrahmen für die Bewertung. Die Kommission wird sich jedoch bemühen, innerhalb von fünf Arbeitstagen nach Erhalt eine erste Prüfung vorzunehmen. Es sei darauf hingewiesen, dass die Mitgliedstaaten eine Verweisung innerhalb von höchstens 15 Arbeitstagen ab dem Zeitpunkt beantragen müssen, an dem ihnen der Zusammenschluss „zur Kenntnis gebracht“ wurde (d.h. aktiv ausreichende Informationen übermittelt wurden, die eine vorläufige Beurteilung ermöglichen). Solange kein Verweisungsantrag gestellt wird, sind die fusionierenden Unternehmen nicht verpflichtet, von der Durchführung ihres Vorhabens Abstand zu nehmen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass eine Intervention zu einem späteren Zeitpunkt ausgeschlossen wäre.

3. Wie informiert man die Kommission als nicht an dem Zusammenschlussvorhaben beteiligtes Unternehmen über einen geeigneten Fall?

Dritte können die Kommission über geeignete Kandidaten für eine Verweisung informieren, indem sie sich formlos an den Abteilungsleiter der für den betreffenden Wirtschaftszweig zuständigen Abteilung wenden. Die Kommission ist nicht verpflichtet, tätig zu werden, aber sie wird den Eingang bestätigen und, wenn sie zu der Auffassung gelangt, dass die Kriterien für eine Verweisung erfüllt sind, die betreffenden Mitgliedstaaten auffordern, innerhalb einer angemessenen Frist eine Verweisung zu beantragen.

4. Wie sieht die Zusammenarbeit zwischen der Kommission und den nationalen Wettbewerbsbehörden aus?

Die Mitgliedstaaten haben das Recht, sind aber nicht dazu verpflichtet, eine Verweisung zu beantragen. Die Kommission kann sie lediglich auffordern, einen solchen Antrag zu stellen. Wir halten es für sehr wahrscheinlich, dass die Mitgliedstaaten, die in Bezug auf die Verweisungspolitik keine Bedenken geäußert haben, einer solchen Aufforderung nachkommen werden. In den Fragen und Antworten wird bestätigt, dass alle an die Kommission übermittelten Informationen vertraulich behandelt werden. Die Kommission ermutigt jedoch die Antragsteller, bei der Einreichung des „Case team allocation request“ anzugeben, ob die Transaktion an sich hochgradig marktsensibel ist, und erwartet die Vorlage einer Verzichtserklärung bezüglich des Informationsaustauschs mit den nationalen Wettbewerbsbehörden.

III. Take-aways

Das neue Verweisungssystem räumt der Kommission einen großen Ermessensspielraum bei der Beurteilung von Zusammenschlussvorhaben, die sich für eine Verweisung eignen, ein. Die gute Nachricht ist jedoch, dass die Fall-Zahlen derzeit darauf hindeuten, dass die Kommission Artikel 22 mit Bedacht anwenden wird. Am unvorhersehbarsten sind die Fälle, in denen die Transaktionen keine der Fusionskontroll-Schwellenwerte der Mitgliedstaaten erreichen und somit vollzogen werden können. Soweit uns bekannt, hat die Kommission bis Mitte Dezember 2022 dreißig solcher Fälle – d.h. Fälle, in denen die nationalen Schwellenwerte nicht erreicht wurden – im Hinblick auf eine Verweisung geprüft, wobei Illumina/GRAIL der einzige Fall ist, der tatsächlich verwiesen wurde. Davon abgesehen gibt es nur wenige weitere Verweisungen (wie die drei anderen oben genannten Fälle), bei denen jedoch zumindest die nationalen Schwellenwerte erreicht wurden.

Insgesamt ist bei der Planung eines Zusammenschlussvorhabens eine weitere Risikobewertung erforderlich, um festzustellen, wo es angebracht ist, bei der Kommission oder zumindest einer nationalen Wettbewerbsbehörde eine frühzeitige Mitteilung zu ersuchen, um die Rechtssicherheit zu erhöhen. Dies muss bereits in einer frühen Phase der Transaktionsplanung berücksichtigt werden, da sich dies erheblich auf den Zeitplan der Transaktion auswirken kann.