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BGH-Urteil zum Schienenkartell II

08.04.2020

Der Bundesgerichtshof hat mit Urteil vom 28.01.2020 (Az. KZR 24/17 – Schienenkartell II) seine Rechtsprechung in Kartellschadensersatzfällen präzisiert, Ungewissheiten beseitigt und das Verhältnis zu aktueller Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) klargestellt. Zugleich hat er den Instanzgerichten erneut die klare Vorgabe gemacht, Parteivortrag einschließlich ökonomischer Gutachten umfassend zu würdigen. Dabei lässt der Kartellsenat erkennen, dass die bisherige Praxis vieler Gerichte, Grundurteile zu erlassen und die Diskussion über einen etwaigen Schaden zu vertagen, nicht prozessökonomisch ist.

Betroffenheit im Lichte europarechtlicher Vorgaben zu verstehen

Nachdem der EuGH jüngst in den Rechtssachen Skanska (Rs. C-724/17) und Otis (Rs. C-435/18) den Kreis der Ersatzpflichtigen und Ersatzberechtigten jeweils weit gefasst hat (hierzu unser Noerr Competition Outlook), stellt der Kartellsenat des Bundesgerichthofs klar, dass er dieser Rechtsprechung folgt und bei Verstößen gegen Art. 101 AEUV die vom EuGH präzisierten europarechtlichen Vorgaben anwendet. Dies setzt der Kartellsenat des Bundesgerichtshofs im Tatbestandsmerkmal der Betroffenheit um. Hiernach kommt der Betroffenheit im Sinne des § 33 Abs. 1 Satz 1 GWB (2005) bei der Prüfung des haftungsbegründenden Tatbestands eine Bedeutung nur für die Frage zu, ob das wettbewerbsbeschränkende Verhalten im Rahmen von Umsatzgeschäften oder auf andere Weise geeignet ist, einen Schaden mittelbar oder unmittelbar zu begründen. Dies ist vom Kläger nach Maßstab des  § 286 ZPO zu beweisen und war im Streitfall erfüllt, da unmittelbar von einer Kartellteilnehmerin Waren erworben wurden, die Gegenstand der Kartellabsprache waren.

Kartellbefangenheit als Teil der haftungsausfüllenden Kausalität

Die bislang teils der Betroffenheit zugewiesene Frage einer Kartellbefangenheit einzelner Erwerbsvorgänge, d.h. ob auch tatsächliche Auswirkungen auf ein konkretes Geschäft gegeben sind, weist der Kartellsenat der haftungsausfüllenden Kausalität zu, so dass hierfür das reduzierte Beweismaß des § 287 ZPO gilt. Damit setzt der Kartellsenat die Kartellbefangenheit mit der für den unionsrechtlich determinierten Schadensersatz maßgeblichen Frage nach dem ursächlichen Zusammenhang zwischen der Kartellabsprache und dem Vorliegen des individuellen Schadens gleich. Erweist sich, dass dem Anspruchsteller ein Schaden entstanden ist, stehe zugleich fest, dass sich die verbotene Absprache auf das Geschäft ausgewirkt habe.

Gesamtwürdigung aller Anknüpfungstatsachen erforderlich

Dabei greift kein Anscheinsbeweis zugunsten der Kläger, jedoch sind die in der Rechtsprechung bereits herausgestellten Erfahrungssätze zu berücksichtigen. Allerdings stellt der Kartellsenat klar, dass es auch bei dem reduzierten Beweismaß des § 287 ZPO nicht genügt, dass lediglich auf Erfahrungssätze abgestellt wird, da diesen gerade kein abstrakt qualifizierbarer Einfluss auf das Ergebnis der Gesamtwürdigung zukommt.

Vielmehr sind in die Gesamtwürdigung alle Umstände einzubeziehen, die festgestellt sind oder für die diejenige Partei, die sich auf einen ihr günstigen Umstand mit indizieller Bedeutung für oder gegen einen Preiseffekt des Kartells beruft, Beweis angeboten hat. Da jedoch die Feststellung, dass der Preis im Kartellzeitraum niedriger oder gleich gewesen ist, notwendigerweise hypothetisch ist, kann weder der unmittelbarer Beweis eines Schadens noch der unmittelbare Gegenbeweis geführt werden. Insbesondere wird ein derartiger Beweis nicht dadurch angetreten, dass für das Entstehen oder das Fehlen eines Schadens Sachverständigenbeweis angetreten wird. Denn auch der Sachverständige kann seine Bewertung – wie das Gericht – nur aus feststellbaren Anknüpfungstatsachen herleiten.

Berücksichtigung von Gerichts- und Parteigutachten bei Gesamtwürdigung

Bei der vorzunehmenden Gesamtwürdigung sind auch gutachterliche Stellungnahmen zu berücksichtigen. Diese können aber nach den Ausführungen des Kartellsenats weder die richterliche Gesamtwürdigung ersetzen noch präjudiziert die Vorlage von Parteigutachten die Würdigung in die eine oder andere Richtung. Der Kartellsenat stellt klar, dass der Tatrichter im Rahmen von Feststellungen nach § 287 ZPO ein Gerichtsgutachten zwar einholen kann aber nicht zwingend muss. Je nach Umstand des Einzelfalls könnte sich die Einholung sachverständigen Rats durch das Gericht auch auf bestimmte ökonomische Schlussfolgerungen für die Wahrscheinlichkeit oder Höhe eines Schadens beziehen.

Jedenfalls aber hat das Tatgericht auch vorgelegte Parteigutachten umfassend zu würdigen. Die Plausibilität derartiger Gutachten hängt dabei nach der Auffassung des Kartellsenats maßgeblich von der Genauigkeit und Validität der dem Gutachten zugrunde liegenden tatsächlichen Beobachtungen auf dem kartellierten Markt und einem Vergleichsmarkt ab und davon, ob sich die Unterschiede zwischen den verglichenen Märkten mit hinreichender Zuverlässigkeit erfassen lassen.

Prozessökonomie von Grundurteilen fraglich

Schließlich gibt der Kartellsenat zu erkennen, dass die Praxis vieler Gerichte, in Kartellschadensersatzfällen Grundurteile im Sinne des § 304 ZPO zu erlassen, unzulässig sein dürfte. Denn ein Grundurteil ist unzulässig, wenn es zu einer ungerechtfertigten Verzögerung und Verteuerung des Prozesses führt. Da sich das erstinstanzliche Gericht nach den Ausführungen des Kartellsenats bereits vor Erlass eines Grundurteils im Rahmen der erforderlichen Gesamtwürdigung umfassend mit den Umständen des Einzelfalls und vorgelegten Parteigutachten auseinandersetzen muss und diese Tatsachen auch für die Höhe wesentlich sind, kann es nach Auffassung des Kartellsenats bei einem Streit über kartellrechtliche Schadensersatzansprüche aus Gründen der Prozessökonomie geboten sein, einheitlich über Grund und Höhe zu entscheiden.

Auswirkungen und Ausblick

Die Entscheidung des Kartellsenats erhöht den Druck auf die Instanzgerichte, sich mit dem Einzelfall und den vorgelegten Parteigutachten auseinanderzusetzen, weiter. Zwar fasst der Kartellsenat den Begriff der Betroffenheit im europarechtlichen Kontext eher weit und schematisch. Er gibt aber auch klar zu erkennen, dass es Aufgabe der Prozessparteien ist, dem Gericht Anknüpfungstatsachen vorzutragen und sie nicht lediglich auf Erfahrungssätze oder die Einholung eines gerichtlichen Sachverständigengutachtens vertrauen können. Dabei ist insbesondere zu begrüßen, dass die oft künstliche Verlagerung der Debatte über ökonomische Fragen und Parteigutachten in spätere Höheverfahren vom Kartellsenat kritisch gesehen wird.

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