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Nichtumsetzung der Whistleblower-Richtlinie – Folgen für Unternehmen?

15.12.2021

An diesem Freitag, dem 17. Dezember 2021, läuft die Umsetzungsfrist der Whistleblower-Richtlinie (nachfolgend: „WB-RL“) ab. Bis zu diesem Zeitpunkt müssen die EU-Mitgliedstaaten die Vorgaben der WB-RL in nationales Recht umgesetzt haben. Die vergangenen Beiträge dieser Reihe zu ausgewählten Themen im Zusammenhang mit der Umsetzung der WB-RL im deutschen Recht, etwa zur Einrichtungspflicht interner Hinweisgeber-Systeme oder dem hohen Schutzniveau für Whistleblower vor Repressalien (vgl. hierzu Teil 1, 2, 3, 4 und 5 dieser Beitragsreihe) haben die wesentlichen damit einhergehenden Herausforderungen für Unternehmen im künftigen Umgang mit Whistleblowing aufgezeigt.

Aufgrund des unmittelbar bevorstehenden Ablaufs der Umsetzungsfrist wird es dem deutschen Gesetzgeber nicht mehr gelingen, ein Umsetzungsgesetz zur WB-RL rechtzeitig zu verabschieden. Seit dem ersten gescheiterten Versuch zur Umsetzung der WB-RL in der vergangenen Legislaturperiode ist bisher kein erneuter gesetzgeberischer Anlauf unternommen worden. Zwar bekräftigt die neue Bundesregierung in ihrem Koalitionsvertrag, dass sie die WB-RL „rechtssicher und praktikabel“ umsetzen will. Einen konkreten Zeitraum oder ein Zieldatum hierfür nennt sie allerdings nicht.

Unternehmen sehen sich daher ab dem 18. Dezember 2021 mit einer unsicheren Rechtslage konfrontiert, die der deutsche Gesetzgeber durch die verspätete Umsetzung der WB-RL (billigend) in Kauf nimmt. Sie müssen eine unmittelbare Wirkung der Richtlinienvorgaben fürchten. Nachfolgend soll deshalb der Frage nachgegangen werden, welche Folge die verspätete Umsetzung der WB-RL in deutsches Recht für Unternehmen tatsächlich hat:

A. Unmittelbare Wirkung der WB-RL

Obschon Richtlinien grundsätzlich einer Umsetzung bedürfen, können einzelne Richtlinienvorgaben unter bestimmten Voraussetzungen auch ohne rechtzeitige Umsetzung eine unmittelbare Wirkung entfalten. Maßgebliche Voraussetzungen hierfür sind

  1. das Fehlen einer rechtzeitigen Implementierung der Richtlinienvorgaben,

  2. die inhaltliche Unbedingtheit und hinreichend genaue Bestimmtheit der Richtlinienvorgaben und

  3. die fehlende rechtliche Verpflichtung der Richtlinienvorgaben für Privatpersonen.

Insbesondere der inhaltlichen Unbedingtheit und hinreichenden Bestimmtheit einer Richtlinienvorgabe kommt für ihre unmittelbare Anwendbarkeit eine entscheidende Bedeutung zu. Die Richtlinie muss hinreichend klar sein und keinen weiteren Rechtssetzungsakt zu ihrer Ausführung bedürfen.

1. Pflicht zur Einrichtung interner Hinweisgeber-Systeme?

Für Unternehmen stellt sich die dringende Frage, ob trotz nicht rechtzeitiger Umsetzung der WB-RL schon ab dem Ablauf der Umsetzungsfrist eine Einrichtungspflicht für interne Hinweisgeber-Systeme besteht.

a. Privater Sektor

Für viele Unternehmen dürfte es erleichternd sein, dass sich die Rechtslage für juristische Personen des privaten Sektors insoweit eindeutig darstellt: Nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs können Richtlinien (anders als europäische Verordnungen) ohne eine entsprechende nationale Umsetzung zu keinen unmittelbaren Pflichten für Privatpersonen führen. Die Untätigkeit des Gesetzgebers soll sich nicht zu ihren Lasten auswirken – Unternehmen sollen also nicht für die mangelnde (oder fehlerhafte) Umsetzungsaktivität ihres Mitgliedstaates bestraft werden.

Unternehmen in Deutschland müssen daher mangels rechtzeitiger Umsetzung der WB-RL (und damit mangels gesetzlicher Einrichtungspflicht) keine rechtlichen Konsequenzen fürchten, wenn sie bis zum 17. Dezember 2021 keine internen Meldekanäle, die den Vorgaben der WB-RL entsprechen (vgl. hierzu Teil 2 dieser Beitragsreihe), eingerichtet haben. Für Unternehmen mit 50 bis 249 Arbeitnehmern folgt dies unabhängig von der ohnehin fehlenden unmittelbaren Wirkung der WB-RL auch schon aus Art. 26 Abs. 2 WB-RL, weil die Mitgliedstaaten für diese die Pflicht zur Einrichtung interner Hinweisgeber-Systeme erst bis zum 17. Dezember 2023 vorschreiben müssen.

Praxishinweis:

Es besteht für Unternehmen trotz unmittelbar bevorstehenden Ablaufs der Umsetzungsfrist der WB-RL am 17. Dezember 2021 keine Pflicht zur Einrichtung interner Meldekanäle, die die Richtlinienvorgaben erfüllen. Hiervon zu trennen ist aber die Frage, ob sich Hinweisgeber trotzdem auf die Schutzvorschriften der WB-RL berufen können (vgl. hierzu noch unter Ziff. 3 und B.).

b. Öffentlicher Sektor

Anders stellt sich die Rechtslage hingegen für den öffentlichen Sektor dar. Nach unserer Einschätzung entfaltet die in Art. 8 Abs. 9 WB-RL vorgesehene Einrichtungspflicht interner Hinweisgeber-Systeme für juristische Personen des öffentlichen Rechts mit Ablauf der Umsetzungsfrist an diesem Freitag, also ab dem 18. Dezember 2021, eine unmittelbare Wirkung. Zwar sieht Art. 9 WB-RL die gleichen verfahrensrechtlichen Vorgaben für die Einrichtung interner Meldekanäle für den öffentlichen wie für den privaten Sektor vor (vgl. hierzu Teil 2 dieser Beitragsreihe und den Sonderbeitrag zu internen Meldestellen im öffentlichen Sektor). Mit der Einrichtungspflicht für den öffentlichen Sektor nimmt der Unionsgesetzgeber aber keine Privatpersonen, sondern mit staatlichen Aufgaben betraute Stellen/Einrichtungen in die Pflicht, für die eine unmittelbare Wirkung von Richtlinienvorgaben im Fall einer verspäteten Umsetzung gerade nicht ausgeschlossen ist.

Der Unionsgesetzgeber hat in Art. 9 WB-RL auch weitestgehend konkrete und hinreichend bestimmte Verfahrensvorgaben für die Einrichtung der internen Meldekanäle normiert. Allein die Wahl zwischen verschiedenen Ausgestaltungen der Meldekanäle führt nicht schon zu einer Intransparenz der Einrichtungspflicht selbst. Damit dürften die Richtlinienvorgaben (trotz des teilweise bestehenden Gestaltungsspielraums) zur Einrichtung interner Meldestrukturen im öffentlichen Sektor inhaltlich ausreichend bestimmt sein und die Voraussetzungen für eine unmittelbare Wirkung im deutschen Recht erfüllen.

Praxishinweis:

Ab dem 18. Dezember 2021 besteht nach unserer Einschätzung für alle juristischen Personen des öffentlichen Sektors eine Pflicht zur Einrichtung interner Hinweisgeber-Systeme, welche die Anforderungen der WB-RL erfüllen müssen. Anders als im privaten Sektor entfalten die Richtlinienvorgaben insoweit eine unmittelbare Wirkung im deutschen Recht. Die deshalb einzurichtenden internen Meldekanäle müssen dabei zwingend den (sachlichen) Anwendungsbereich der WB-RL abdecken. Es besteht aber keine Verpflichtung, die von der neuen Bundesregierung angekündigte überschießende Umsetzung der WB-RL (vgl. hierzu „Unternehmen aufgepasst: Überschießende Umsetzung der Whistleblower-Richtlinie kommt“) durch eine entsprechend weite Öffnung der Meldestellen abzubilden und vorwegzunehmen.

Diese Einrichtungspflicht erfasst auch Kommunen mit weniger als 10.000 Einwohnern oder sonstige staatlichen Stellen mit weniger als 50 Arbeitnehmern. Die für diese Stellen des öffentlichen Sektors in Art. 8 Abs. 9 UAbs. 2 WB-RL vorgesehene Abweichungsmöglichkeit kann nur durch den deutschen Gesetzgeber gewährt werden, so dass sie derzeit mangels Umsetzungsgesetzes (noch) nicht greift. Auch eine „Schonfrist“ wie sie für Unternehmen des privaten Sektors mit weniger als 250 Mitarbeitern in Art. 26 Abs. 2 WB-RL bis zum 17. Dezember 2023 festgelegt ist, gilt für den öffentlichen Sektor nicht.

2. Pflicht zur Einrichtung externer Hinweisgeber-Systeme?

Die Mitgliedstaaten müssen nach Art. 11 Abs. 1 WB-RL Behörden benennen, die befugt sind sowohl Meldungen entgegenzunehmen als auch entsprechende Folgemaßnahmen zu ergreifen und hierzu Rückmeldung zu geben. Dazu müssen sie diese „Whistleblowing-Behörden“ mit angemessenen Ressourcen ausstatten und sicherstellen, dass die dort angesiedelten Meldekanäle unabhängig und autonom eingehende Meldungen entgegennehmen und weiterverarbeiten können (Art. 11 Abs. 2 lit. a WB-RL). Ergänzend hierzu macht Art. 12 WB-RL umfangreiche Vorgaben zur Ausgestaltung dieser externen Meldestellen (z. B. zur Speicherung eingehender Informationen oder zu zulässigen Meldewegen).

Der Unionsgesetzgeber hat damit für externe Meldekanäle – ähnlich wie auch für die internen Hinweisgeber-Systeme – zwar maßgebliche Ausgestaltungsvorgaben getroffen. Konkrete Vorgaben zu den als „Whistleblowing-Behörde“ zu benennenden Stellen hat er aber nicht gemacht, sondern dies vielmehr in das Ermessen der Mitgliedstaaten gestellt. Hierdurch erscheinen die Richtlinienvorgaben zur Einrichtung externer Hinweisgeber-Systeme insgesamt als nicht hinreichend bestimmt und inhaltlich nicht unbedingt, da es für die Benennung der „Whistleblowing-Behörden“ eines weiteren entscheidenden Rechtssetzungsaktes durch die Mitgliedstaaten bedarf. Eine unmittelbare Wirkung dieser Richtlinienvorgaben im deutschen Recht ist nach unserer Einschätzung deshalb abzulehnen.

Praxishinweis:

Sofern wider Erwarten auch ohne Umsetzungsgesetz (provisorische) externe Meldestellen bei Behörden eingerichtet werden, sollten Unternehmen dringend die Einrichtung adäquater interner Hinweisgeber-Systeme sicherstellen. Es gilt diese möglichst attraktiv auszugestalten, um Hinweisgebern eine echte Alternative zur externen Meldung zu bieten und dem vermeidbaren Verlust unternehmensinterner Informationen vorzubeugen.

3. Schutz für Hinweisgeber?

Auch unabhängig von einer konkreten Adressatenbezogenheit können die Vorgaben der WB-RL eine unmittelbare Wirkung entfalten.

Für Unternehmen ist in diesem Zusammenhang besonders bedeutsam, ob das hohe Schutzniveau für Whistleblower vor Repressalien auch ohne deutsches Umsetzungsgesetz greift. Wäre dies der Fall, so bestünde ein Schutzanspruch für Hinweisgeber vor Repressalien wie einer Kündigung oder Versetzung (Art. 19 WB-RL) unabhängig von der Meldemotivation oder von einem vorherigen innerbetrieblichen Abhilfeversuch. Überdies griffe die in Art. 21 Abs. 5 WB-RL zulasten von Unternehmen vorgesehene weitreichende Beweislastumkehr (vgl. hierzu Teil 4 dieser Beitragsreihe).

Auch hier dürfte es für Unternehmen eine erleichternde Nachricht sein, dass eine unmittelbare Wirkung dieser weitreichenden Schutzvorgaben für Hinweisgeber im Privatrechtsverhältnis ausscheidet (siehe hierzu auch schon oben unter Ziff. 1). Dies gilt unabhängig davon, dass der Schutzanspruch des Hinweisgebers nur im Falle einer Meldung an die speziell eingerichteten internen oder externen Meldekanäle greift (Art. 6 Abs. 1 lit. b) WB-RL).

Praxishinweis:

Bis zum Erlass eines deutschen Umsetzungsgesetzes kommen die hohen Schutzvorgaben für Hinweisgeber im Privatrechtsverhältnis nicht unmittelbar zu Anwendung. Hiervon zu unterscheiden ist allerdings die Frage, inwieweit sich diese durch eine richtlinienkonforme Auslegung des geltenden Rechts auf das Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer auswirken können (vgl. hierzu sogleich unter Ziff. B).

Exkurs (öffentlicher Sektor):

Anders als für juristische Personen des privaten Sektors kann eine unmittelbare Wirkung der Schutzvorgaben der WB-RL im öffentlichen Sektor nicht ausgeschlossen werden. Hinweisgeber die sich an die – auch ohne Umsetzungsgesetz – verpflichtend einzurichtenden internen Meldekanäle der jeweiligen öffentlichen Stelle wenden, dürften sich vielmehr unmittelbar auf den hohen Schutz der WB-RL vor Repressalien berufen können. Dies gilt auch für die Informationsweitergabe an die Öffentlichkeit. Sofern die Voraussetzungen des Art. 15 Abs. 1 lit. b) WB-RL erfüllt sind, genießen Hinweisgeber daher einen umfassenden Schutz vor Repressalien.

B. Richtlinienkonforme Auslegung

Unternehmen müssen folglich keine unmittelbare Wirkung der WB-RL fürchten und haben durch die fehlende Umsetzung in deutsches Recht eine zusätzliche „Schonfrist“ bei der Implementierung interner Hinweisgeber-Systeme erhalten. Dies sollte indes nicht darüber hinwegtäuschen, dass die WB-RL auch im Privatrechtsverhältnis gewisse Wirkungen entfalten kann:

Die Arbeitsgerichte sind zu einer richtlinienkonformen Auslegung des deutschen Rechts verpflichtet. Hierdurch kann insbesondere das hohe Schutzniveau der WB-RL für Whistleblower in Arbeitsrechtsstreitigkeiten zur Geltung kommen, weil nationale Normen wie etwa § 241 Abs. 2 BGB oder § 612a BGB richtlinienkonform ausgelegt werden.

Zwar gilt auch insoweit, dass der Schutzanspruch eines Hinweisgebers vom Bestehen interner und externer Meldekanäle abhängt. Allerdings ist es nicht ausgeschlossen, dass sich die Arbeitsgerichte auch außerhalb des Bestehens interner (und externer) Meldestrukturen, also bei einer Meldung des Hinweisgebers an sonstige interne oder externe Stellen
(z. B. ihren Vorgesetzten oder Strafverfolgungsbehörden), an den Wertungen der WB-RL orientieren und wertungsoffene Generalklauseln wie insbesondere § 241 Abs. 2 BGB anhand der Schutzvoraussetzungen des Art. 6 Abs. 1 WB-RL auslegen (sog. richtlinienorientierte Auslegung). Hinweisgeber wären dann innerhalb des Anwendungsbereichs der WB-RL (vgl. hierzu Teil 1 dieser Beitragsreihe) unabhängig von ihrer Meldemotivation oder eines vorherigen internen Abhilfeversuchs vor Repressalien geschützt. Auch eine öffentliche Informationspreisgabe im Falle einer dringenden Gefahr oder eines kollusiven Zusammenwirkens von Unternehmen und staatlichen Stellen (Art. 15 Abs. 1 lit. b) WB-RL) könnte dann zu einem weitreichenden Schutzanspruch des Hinweisgebers führen.

Praxishinweis:

Ab dem 18. Dezember 2021 besteht eine eher unsichere Rechtslage im Hinblick auf den Schutz für Hinweisgeber. Angesichts der Gefahr einer richtlinienkonformen bzw. richtlinienorientierten Auslegung von Generalklauseln im deutschen Recht durch die Arbeitsgerichte sollten Unternehmen ihre internen Meldestrukturen prüfen und ggfs. anpassen, um Hinweisgebern eine vertrauliche und sichere Meldemöglichkeit im Unternehmen einzuräumen. Hierdurch wappnen sich Unternehmen auch bereits für die (sicher) anstehenden Veränderungen im deutschen „Whistleblowerrecht“. 

Arbeitsrecht

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