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Vorschlag der Europäischen Kommission für ein EU-Instrument gegen wirtschaftlichen Zwang durch Drittländer

10.12.2021

Hintergrund

Am 8. Dezember 2021 hat die Europäische Kommission („Kommission“) ihren Vorschlag für ein EU-Instrument gegen wirtschaftlichen Zwang durch Drittländer (anti-coercion instrument - „ACI“) angenommen. Diese vorgeschlagene Rahmenverordnung soll das bestehende handelspolitische Instrumentarium der Kommission ergänzen und ihr ein zusätzliches Rechtsinstrument an die Hand geben, um gegen wirtschaftliche Zwangsmaßnahmen mächtiger ausländischer Staaten wie China und Russland, aber auch die Vereinigten Staaten vorzugehen.

In den letzten Jahren ist eine deutliche Zunahme von Zwangspraktiken ausländischer Staaten zu beobachten, die versuchen, die Entscheidungen der EU oder ihrer Mitgliedstaaten im Bereich Handel und Investitionen zu beeinflussen. Der Druck, den die USA auf Frankreich als Reaktion auf dessen Pläne zur Einführung einer Steuer auf digitale Dienstleistungen ausgeübt haben, ist in diesem Zusammenhang ein herausragendes Beispiel. Es hat sich gezeigt, dass diese Praktiken, wenn sie nicht in irgendeiner Form angegangen oder unterbunden werden, das Potenzial haben, die wirtschaftlichen und geopolitischen Interessen der Union zu gefährden und damit das neue handelspolitische Konzept der EU, das auf einer offenen strategischen Autonomie beruht, zu untergraben.

Bislang hat sich die EU in der Regel schwer getan, auf Zwangspraktiken von Drittstaaten zu reagieren. Wie immer in der Außenpolitik erfordern die EU-Verträge für die Verhängung von Sanktionen die einstimmige Zustimmung der Mitgliedstaaten. Das wiederum ist oft nicht zu erreichen. Vor allem in Bezug auf China haben einzelne Staats- und Regierungschefs wie der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán oft ihr Veto gegen EU-Entscheidungen eingelegt. Deshalb soll die Entscheidung über den Einsatz des Instruments gegen Zwangsmaßnahmen laut Vorschlag weitgehend der Kommission überlassen werden. Die Mitgliedstaaten könnten es nur dann verhindern, wenn es im Rat eine qualifizierte Mehrheit gegen eine von der Kommission vorgeschlagene Maßnahme gibt. Es besteht kaum ein Zweifel daran, dass diese Umkehrung der Mehrheitsverhältnisse bei der Beteiligung des Rates (anstelle der bisherigen Notwendigkeit einer einstimmigen Zustimmung für die Annahme einer Sanktionsmaßnahme) letztlich den Kern des Vorschlags darstellt.

Unzulänglichkeiten der bestehenden Instrumente zur Bekämpfung unlauterer Handelspraktiken

Die Union verfügt über eine Vielzahl von Instrumenten, um gegen unlautere Handelspraktiken vorzugehen (handelspolitische Schutzinstrumente, Streitbeilegungsmechanismus der WTO, Be-stimmungen in bilateralen Abkommen), aber sie verfügt nicht über ein spezifisches Instrument zur Bekämpfung wirtschaftlicher Zwangsmaßnahmen.

In der Absichtserklärung zur Lage der Union 2020 kündigte Kommissionspräsidentin von der Leyen an, dass die Kommission bis spätestens Ende 2021 einen Legislativvorschlag über ein Instrument, um Zwangsmaßnahmen durch Drittländer abzuwenden und diesen entgegenzuwirken, annehmen werde. Der Legislativvorschlag wurde in das Arbeitsprogramm der Kommission für 2021 aufgenommen und zu Beginn des Jahres einigten sich die Kommission, der Rat und das Europäische Parlament auf eine Gemeinsame Erklärung über ein Instrument, um Zwangsmaßnahmen durch Drittländer abzuwenden und diesen entgegenzuwirken .

Nach der Folgenabschätzung in der Anfangsphase und einer ersten öffentlichen Konsultation veröffentlichte die Kommission am 7. September 2021 einen Bericht mit den detaillierten Ergebnissen der öffentlichen Konsultation. Die Beiträge kamen von Wirtschaftsverbänden, Unternehmen aus verschiedenen Sektoren (Automobilindustrie, Luft- und Raumfahrt und Verteidigung, Textilindustrie, Gesundheitswesen, Energie, Telekommunikation, Halbleiter...), Behörden, Gewerkschaften und der Wissenschaft. Die meisten von ihnen erkannten an, dass wirtschaftlicher Zwang ein Problem darstellt, und sprachen sich für die Einführung eines Instruments zur Bekämpfung von wirtschaftlichen Zwangsmaßnahmen aus.

Die wichtigsten Aspekte des Vorschlags

Ziel der vorgeschlagenen Verordnung ist es in erster Linie, andere Länder davon abzuhalten, Zwang oder die Androhung von Zwang gegen die EU oder ihre Mitgliedstaaten anzuwenden, um so die Interessen der Union und ihrer Mitgliedstaaten zu schützen.

Im Vorschlag wird wirtschaftlicher Zwang als Druck definiert, der von einem Drittland durch Maßnahmen ausgeübt wird, die den Handel oder die Investitionen der EU oder eines Mitgliedstaats beeinträchtigen, um ein bestimmtes Ergebnis zu erzielen, z. B. den Erlass, die Änderung oder die Einstellung eines bestimmten Beschlusses/einer bestimmten Handlung durch die Union oder einen ihrer Mitgliedstaaten. Die Kommission prüft von sich aus oder aufgrund von Informationen, die sie von einem Mitgliedstaat oder einer juristischen oder natürlichen Person erhalten hat, ob die fragliche Maßnahme tatsächlich den Charakter einer Zwangsmaßnahme hat.

Die vorgeschlagene Verordnung sieht ein mehrstufiges Verfahren vor, das den Einsatz von Gegenmaßnahmen als letztes Mittel vorsieht. Zunächst wird die Kommission mit dem Drittland in Kontakt treten, um durch Verhandlungen, Schlichtung oder Schiedsverfahren eine Lösung zu finden. Die Kommission ist zudem aufgefordert, Konsultationen oder eine Zusammenarbeit mit jedem anderen Land aufzunehmen, das von der gleichen Praxis betroffen ist. Sollte keine Lösung gefunden werden, wird die Kommission die Anwendung von Gegenmaßnahmen in Erwägung ziehen und eine Frist für deren Anwendung setzen.

Im Anhang der Verordnung sind eine Reihe von Reaktionsmaßnahmen der Union in den Bereichen Waren und Dienstleistungen, aber auch geistige Eigentumsrechte und ausländische Direktinvestitionen aufgeführt. Darüber hinaus gibt es verschiedene Beschränkungen für den Zugang zum europäischen Markt sowie für EU-finanzierte Programme. Die Kommission kann jedoch auch beschließen, eine nicht in der Verordnung aufgeführte Maßnahme zu ergreifen.

Die getroffenen Maßnahmen müssen verhältnismäßig und vorübergehender Natur sein. Natürliche oder juristische Personen können von der Reaktionsmaßnahme der Union betroffen sein, wenn sie mit der Regierung des Drittlandes in Verbindung stehen oder an der wirtschaftlichen Zwangsmaßnahme beteiligt waren. Für die Auswahl der Maßnahme ist die Einbeziehung der relevanten Interessengruppen und der Mitgliedstaaten unerlässlich. Die Reaktionsmaßnahme der Union wird von der Kommission im Wege eines Durchführungsrechtsakts nach Konsultation und positiver Stellungnahme (qualifizierte Mehrheit) des Ausschusses mit technischen Sachverständigen der Mitgliedstaaten angenommen. Das Europäische Parlament und der Rat werden während der Ausarbeitung des Rechtsakts auf dem Laufenden gehalten und haben ein Kontrollrecht, können aber die Annahme des Rechtsakts nicht blockieren.

Besonders erwähnenswert ist an dieser Stelle, dass der Vorschlag keine Bestimmungen über irgendeine Art von finanziellem Ausgleich für Wirtschaftsteilnehmer enthält, die von wirtschaftlichen Zwangsmaßnahmen negativ betroffen sind. Dieses Anliegen wurde von Interessengruppen während der öffentlichen Konsultation vorgebracht, bleibt aber vorerst unbehandelt.

Die Kommissionsdienststellen sollen das Funktionieren des Instruments und seine Anwendung spätestens drei Jahre nach der Annahme des ersten Durchführungsrechtsakts oder sechs Jahre nach dem Inkrafttreten der Verordnung überprüfen, je nachdem, welcher Zeitpunkt früher liegt. Die Kommission würde dann dem Europäischen Parlament und dem Rat Bericht erstatten.

Gesetzgebungsverfahren: nächste Schritte, zu erwartende Haupthindernisse und Bedenken

Der Vorschlag folgt dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren, d.h. das Europäische Parlament und der Rat müssen ihre Positionen auf der Grundlage des Kommissionsvorschlags intern festlegen, bevor sie miteinander über einen endgültigen Text verhandeln.

Bereits vor der Vorlage des Vorschlags durch die Kommission haben der Rat und das Europäische Parlament ihre Zusage gegeben, den Vorschlag rechtzeitig zu prüfen. Der Vorsitzende des Ausschusses für internationalen Handel des Europäischen Parlaments, der für das Dossier zuständig sein wird, Herr Lange, bestätigte die Absicht der Gesetzgeber, zügig zu arbeiten, um das vorgeschlagene Instrument so bald wie möglich in Kraft zu setzen.

Während im Parlament ein gewisser gemeinsamer Enthusiasmus der europäischen Gesetzgeber für den Vorschlag festzustellen ist, gilt dies nicht für den Rat. Einige Mitgliedstaaten (darunter Schweden, die Tschechische Republik, Irland und die nordischen Länder) haben bereits ihre Bedenken gegenüber dem Vorschlag geäußert, der ihrer Meinung nach zu mehr Protektionismus führen könnte. Andere hingegen unterstützen das neue Instrument als Mittel zur Verteidigung der Interessen der Union.

Ein weiterer problematischer Aspekt, der zu Divergenzen zwischen den Mitgliedstaaten führen dürfte, betrifft das Abstimmungssystem. Genauer gesagt fällt das vorgeschlagene neue Instrument in den Bereich der EU-Handelspolitik, der es erlaubt, die Verordnung mit qualifizierter Mehrheit statt einstimmig zu verabschieden.

Das Gesetzgebungsverfahren in der EU dauert im Durchschnitt eineinhalb Jahre, kann aber ohne Weiteres bis zu drei Jahre dauern, wenn ein Kompromiss zwischen verschiedenen Positionen nicht leicht zu finden ist. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Ratspräsidentschaft, die die Arbeit des Rates vorantreibt, den Vorsitz in den Sitzungen der Vorbereitungsgremien führt und die Tagesordnung festlegt. Frankreich, das den Vorschlag begrüßt hat, wird in der ersten Hälfte des Jahres 2022 den Vorsitz im Rat übernehmen. In der zweiten Hälfte des nächsten Jahres wird die Tschechische Republik den Rat leiten, gefolgt von Schweden, das bereits Zweifel an dem Vorschlag geäußert hat.

Schlussbemerkungen

Das vorgeschlagene neue Instrument ist ein Baustein der neuen EU-Handelsagenda, die im vergangenen Februar veröffentlicht wurde: In einer Zeit des wirtschaftlichen Wandels und der geopolitischen Herausforderungen will die EU ihre Fähigkeit stärken, ihre Interessen und Werte zu verteidigen. Gleichzeitig scheint sich die EU ihrer bestehenden völkerrechtlichen Verpflichtungen bewusst zu sein und hat klargestellt, dass der vorgeschlagene Mechanismus nicht dazu gedacht ist, die Inanspruchnahme des WTO-Streitbeilegungsverfahrens als primäres Instrument zur Bekämpfung unfairer Außenhandelspraktiken ausländischer Staaten zu ersetzen. Es ist nach wie vor zu erwarten, dass die anderen WTO-Mitglieder den neuen Mechanismus und seine praktische Anwendung sehr genau unter die Lupe nehmen werden.

Das ACI soll die bestehenden EU-Instrumente (Investitionsprüfungsmechanismus, Ausfuhrkontrollen) und künftige Initiativen ergänzen, um die unrechtmäßige extraterritoriale Anwendung einseitiger Sanktionen durch Drittländer gegen EU-Wirtschaftsbeteiligte weiter abzuschrecken und zu bekämpfen, einschließlich der Änderung des so genannten „Blocking-Verordnung“ (Verordnung 2271/96), wie in der Mitteilung „Das europäische Wirtschafts- und Finanzsystem: Mehr Offenheit, Stärke und Resilienz“ vom vergangenen Januar dargelegt.

Interessengruppen können in den nächsten acht Wochen noch Rückmeldungen zu dem Vorschlag geben; die Kommission wird dann dem Europäischen Parlament und dem Rat über die eingegangenen Stellungnahmen berichten. 

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