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Neuer „Blue Guide“ der EU – Interpretationshilfe für die Praxis?

05.07.2022

Die EU-Kommission hat am 29. Juni 2022 den Leitfaden für die Umsetzung der Produktvorschriften der EU 2022 („Blue Guide“) im Amtsblatt der EU veröffentlicht.

Das rechtlich unverbindliche Guidance-Dokument zu den produktrechtlichen Harmonisierungsvorschriften der EU soll Behörden und Wirtschaftsakteuren als Auslegungshilfe dienen. Seine Anwendung war und bleibt allerdings nicht unproblematisch. Soweit der Leitfaden schlicht den Rechtstext der europäischen Harmonisierungsvorschriften wiederholt, bietet er den Wirtschaftsakteuren nur überschaubaren Nutzen. Dort, wo die EU-Kommission unter dem Deckmantel der „Auslegungshilfe“ gesetzliche Definitionen oder Anwendungsbereiche über den Wortlaut der betreffenden Rechtsvorschriften hinaus erweitert (zuletzt etwa bei der Interpretation des Inverkehrbringensbegriffs im Online-Handel), maßt sie sich gesetzgeberische Kompetenzen an, die sie nicht hat. Der eigene Verweis des Leitfadens auf seine rechtliche Unverbindlichkeit wirkt angesichts seiner häufig recht unhinterfragten Heranziehung auch im behördliche Umfeld bisweilen wie ein formelhafter Disclaimer.

Die Überarbeitung des letztmals im Jahr 2016 aktualisierten Dokuments war notwendig geworden, weil der europäische Gesetzgeber seither zahlreiche neue Rechtsvorschriften erlassen hat, die die Ausführungen in der Vorversion obsolet oder anpassungsbedürftig gemacht haben. Hinzu kommen die besonderen Schwierigkeiten, die die Product Compliance in Europa durch den Brexit erfahren musste.

Die wesentlichen Änderungen im Vergleich zur Vorgängerversion aus dem Jahr 20216 erstrecken sich auf folgende Themenkreise:

EU-Marktüberwachungsverordnung (EU) 2019/1020

Die neue EU-Marktüberwachungsverordnung (EU) 2019/1020 („MÜ-VO“) ersetzt die Verordnung (EG) Nr. 765/2008 und harmonisiert seit 16.07.2021 erstmals europaweit die Vollzugsarbeit der Marktüberwachungsbehörden bei der Überwachung von Non-Food Produkten. Aus rechtlicher Perspektive war dies begrüßenswert. Denn zahlreiche Regelungen dieser Verordnung fanden sich zuvor – mitunter schwer auffindbar, umständlich formuliert und eben rechtlich unverbindlich – in der Vorgängerversion des Blue Guide. Während diese Regelungen heute europaweit verbindlich sind, galten sie zuvor als „Wunschvorstellung“ der EU-Kommission bei der Rechtsanwendung. Zu den wesentlichen Inhalten der MÜ-VO verweisen wir auf unseren Newsbeitrag vom 09. Juli 2021.

Der Leitfaden befasst sich daher ausgiebig mit der Reaktion des EU-Gesetzgebers in der MÜ-VO auf die Mega-Herausforderung E-Commerce, der die Marktüberwachungsbehörden in Europa bis vor kurzem weitgehend macht- und befugnislos gegenüber standen.

Endnutzer, wesentliche Änderung und vorgesehener Verwendungszweck

Solange man die Unverbindlichkeit der Aussagen der EU-Kommission stets vor Augen hat, enthält der neue Blue Guide durchaus hilfreiche Interpretationsansätze, etwa zur Frage, unter welchen Voraussetzungen ein Produkt, an dem nach Inbetriebnahme wesentliche Änderungen vorgenommen wurden, als neues Produkt angesehen werden kann und bei erneuter Bereitstellung den Bestimmungen der zu diesem Zeitpunkt geltenden Rechtsvorschriften entsprechen muss.

Interessant sind auch die Ausführungen zum vernünftigerweise vorhersehbaren Gebrauch und zum vorgesehenen Verwendungszweck eines Produkts. Hier führt der neue Blue Guide aus, dass bei zur Verwendung im Freien bestimmter Produkten zu berücksichtigen sei, wie sich Prognosen über den Klimawandel in der EU auf die Sicherheit und Leistung des Produkts während der Verwendung auswirken könnten.

Erstmals bietet der Blue Guide außerdem den Versuch einer Definition des im EU-Produktrecht ungemein wichtigen, aber nicht legaldefinierten Begriffs „Endnutzer“ an. Nach Auffassung der EU-Kommission ist hierunter jede natürliche oder juristische Person mit Wohnsitz oder Niederlassung in der Union zu verstehen, der ein Produkt bereitgestellt wird, und zwar entweder als Verbraucher außerhalb seiner gewerblichen, geschäftlichen, handwerklichen oder beruflichen Tätigkeit oder als beruflicher Endnutzer im Rahmen seiner gewerblichen oder beruflichen Tätigkeit. Hätte der Gesetzgeber diese Definition in die maßgeblichen Rechtsakte (etwa die EMV-Richtlinie 2014/30/EU) integriert, wäre deren Anwendbarkeit auf reine b2b-Komponenten mitunter klarer.

Grenzüberschreitende Tätigkeit und Akkreditierung von Konformitätsbewertungsstellen

Eine neue Konkretisierung enthält der Blue Guide außerdem zu Möglichkeiten von Konformitätsbewertungsstellen, bestimmte Aufgaben an Unterauftragnehmer zu delegieren. Er stellt außerdem klar, dass diese Stellen unter bestimmten Voraussetzungen Tätigkeiten auch außerhalb des Mitgliedsstaates, in dem sie niedergelassen sind, ausführen und dort Personal unterhalten können und führt aus, wie die grenzüberschreitende Kompetenzfeststellung (sog. Akkreditierung) erfolgen kann.

Gegenseitige Anerkennung innerhalb und außerhalb der EU

Selbstverständlich berücksichtigt der neue Blue Guide auch die seit dem 19. April 2020 geltende Verordnung (EU) 2019/515 über die gegenseitige Anerkennung von Waren – ein weithin unterschätzter Rechtsakt, der die entsprechenden Regelungen aus der Verordnung (EG) Nr. 764/2008 ersetzt hat.

Im außereuropäischen Kontext liefert der neue Leitfaden zudem einige Hintergründe zu dem im Rahmen des umfassenden Wirtschafts- und Handelsabkommens (CETA) vorgesehenen Protokoll über die gegenseitige Anerkennung der Ergebnisse der Konformitätsbewertung. Dies erleichtert der EU und Kanada die Ausfuhr von Waren durch die wechselseitige Anerkennung von Konformitätsbewertungsbescheinigungen.

Durch den am 1. Februar 2020 vollzogenen Brexit ist das Vereinigte Königreich kein Mitgliedstaat der EU mehr, sondern europarechtlich betrachtet ein „Drittstaat“. Im Austrittsabkommen war ein Übergangszeitraum vorgesehen, der am 31. Dezember 2020 endet. Der neue Blue Guide enthält vor diesem Hintergrund Erläuterungen zu den rechtlichen Folgen des Brexit, unter anderem auch zu dem am 24. Dezember 2020 zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich geschlossenen Handels- und Kooperationsabkommen (Trade and Cooperation Agreement, TCA), das seit dem 1. Januar 2021 vorläufig anwendbar ist. Im Zusammenhang mit dem Brexit finden sich im neuen Blue Guide außerdem Erläuterungen zu dem seit dem 1. Januar 2021 geltenden Protokoll zu Irland/Nordirland, wonach einige Bestimmungen des EU-Rechts auch auf das Vereinigte Königreich und im Vereinigten Königreich in Bezug auf Nordirland anwendbar sind.

Aus Drittländern eingeführte, (noch) nicht konforme Produkte

Erfreulicherweise äußert sich der neue Blue Guide erstmals sehr klar zur praxisrelevanten Frage der Zulässigkeit einer Einfuhr noch nicht konformer Produkte in die EU. Erzeugnisse, die in das Unionsgebiet gelangt sind und dort eine weitere Verarbeitung erfordern, um den Harmonisierungsrechtsvorschriften der Union zu entsprechen, können in ein entsprechendes Zollverfahren überführt werden, das eine solche Verarbeitung ermöglicht. Die Produkte dürfen jedoch erst in den zollrechtlich freien Verkehr überführt werden, wenn sie den Vorschriften entsprechen. Diese Klarstellung der freilich nicht neuen Rechtlage wird dem ein oder anderen Einführer von Produkten in der häufigen Auseinandersetzung mit den Zoll- und Marktüberwachungsbehörden künftig eine Hilfe sein.

Fazit – Interpretationshilfe für die Praxis der Wirtschaftsakteure?

Der Blue Guide der EU-Kommission ist nach seiner Aktualisierung weiterhin die prominenteste allgemein zugängliche Interpretationshilfe für die europäischen Harmonisierungsvorschriften über Non-Food Produkte. Der praktische Nutzen liegt in erster Linie darin, dass er die wesentlichen Regelungsgegenstände der europäischen Rechtsvorschriften für Non-Food Produkte in thematisch gegliederter Form für den Leser aufbereitet und die Rechtstexte damit insbesondere für den juristischen Laien „zugänglicher“ macht. Eine echte Interpretation der Rechtsvorschriften, die sich an Rechtsprechung der Gerichte und an der Vollzugspraxis der europäischen Behörden orientiert, bietet der Leitfaden dagegen nicht. Diese Aufgabe werden daher auch in Zukunft das technikrechtliche Schrifttum und die juristische Kommentierung der wesentlichen Rechtsvorschriften übernehmen müssen, damit Unternehmen in Zweifelsfragen zur Verkehrsfähigkeit ihrer Produkte rechtlich belastbare Entscheidungen treffen können.

Ein Dokument, aus dem die Änderungen zur Vorversion farblich hervorgehen, können Sie bei Interesse gerne bei Dr. Arun Kapoor anfordern.

 

 

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