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Modernisierung und Digitalisierung des Zivilprozesses im Koalitionsvertrag

25.11.2021

Am 24.11.2021 haben SPD, Bündnis90/Die Grünen und die FDP ihren Koalitionsvertrag vorgelegt. Ziel der Parteien ist es unter anderem, den Zivilprozess zu modernisieren und zu digitalisieren und dabei auch den kollektiven Rechtsschutz in Deutschland weiter auszubauen.

Ausbau des kollektiven Rechtsschutzes und Stärkung von Legal-Tech-Anbietern

Ein wesentliches Ziel des Koalitionsvertrages im Bereich Justiz ist die Fortentwicklung des kollektiven Rechtsschutzes:

„Wir bauen den kollektiven Rechtsschutz aus. Bestehende Instrumente wie z. B. nach dem Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz modernisieren wir und prüfen den Bedarf für weitere. Die EU-Verbandsklagerichtlinie setzen wir anwenderfreundlich und in Fortentwicklung der Musterfeststellungsklage um und eröffnen auch kleinen Unternehmen diese Klagemöglichkeiten. An den bewährten Anforderungen an klageberechtige Verbände halten wir fest.“ (Seite 106 des Koalitionsvertrages)

Das im September 2020 verlängerte KapMuG tritt mit Ablauf des 31.12.2023 außer Kraft (§ 28 KapMuG). Sowohl die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen (BT-Drs. 19/17751) als auch die FDP-Fraktion (BT-Drs. 19/22349) hatten bereits während des Gesetzgebungsverfahrens zur Verlängerung konkrete Vorschläge zur Überarbeitung des KapMuG vorgelegt, auf die die künftige Koalition aufbauen könnte. Die Vorschläge betreffen beispielsweise eine ausdrückliche Abgrenzung zu anderen Instrumenten des kollektiven Rechtsschutzes, stärkere Einflussmöglichkeiten der zuständigen Gerichte auf die Einleitung und den Gegenstand des Musterverfahrens sowie eine länderübergreifende Zuständigkeitskonzentration.

Als Paradigmenwechsel kann die Ankündigung verstanden werden, auch „kleinen Unternehmen“ die Möglichkeit zu eröffnen, kollektive Rechtsschutzinstrumente in Anspruch zu nehmen. Diese Möglichkeit steht bisher nur Verbrauchern zur Verfügung. Wann ein kleines Unternehmen vorliegt, bleibt abzuwarten.

Die Koalition beabsichtigt zudem, an der Musterfeststellungsklage festzuhalten und diese im Zuge der Einführung der durch die Richtlinie (EU) 2020/1828 geforderten kollektiven Leistungsklage (näheres hierzu hier) weiterzuentwickeln. Festgehalten werden soll auch an dem bewährten System der Verbandsklage. Klagebefugt bleiben also auch künftig nur Verbände, die über eine entsprechende Berechtigung verfügen. Diesen Verbänden wird dann ein breites Spektrum von Klageinstrumenten zur Verfügung stehen, das von der Unterlassungsklage über die Musterfeststellungsklage bis hin zur Leistungsklage reicht. Der Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv) kann zudem mit weiteren finanziellen Mitteln rechnen, um Kollektivklagen zu erheben (Seite 112 des Koalitionsvertrages).

Abzuwarten bleibt, was sich hinter der Ankündigung verbirgt, den Rechtsrahmen für Legal Tech-Unternehmen zu erweitern (Seite 112 des Koalitionsvertrages), der sich so fast wortgleich im Bundestagswahlprogramm der FDP findet. Denkbar ist, dass der im Jahr 2020 noch gescheiterte Gesetzentwurf der FDP-Bundestagsfraktion, der eine weitgehende Liberalisierung vorsah (BT-Drucks. 19/9527), wieder auf die Tagesordnung kommt. In jedem Fall ist damit zu rechnen, dass Angebote zur Durchsetzung von Ansprüchen gegen Erfolgshonorar Rückenwind erhalten.

Online-Verhandlungen und digitale Verfahren für Kleinforderungen

Darüber hinaus sieht der Koalitionsvertrag eine moderate Modernisierung des Zivilprozesses vor:

„Gerichtsverfahren sollen schneller und effizienter werden: Verhandlungen sollen online durchführbar sein, Beweisaufnahmen audio-visuell dokumentiert und mehr spezialisierte Spruchkörper eingesetzt werden. Kleinforderungen sollen in bürgerfreundlichen digitalen Verfahren einfacher gerichtlich durchgesetzt werden können.“ (Seite 84 des Koalitionsvertrages)

Die Koalitionspartner knüpfen damit an ein Diskussionspapier der Richterschaft zur Modernisierung des Zivilprozesses sowie zahlreiche positive Erfahrungen mit Online-Verhandlungen während der Corona-Pandemie an.

Eine echte virtuelle Verhandlung, bei der auch das Gericht nicht im Sitzungssaal anwesend sein muss, könnte gegenüber der bisherigen Praxis, bei der häufig eine Kamera für den gesamten Saal genügen muss, ein Fortschritt sein. Freilich wird hier auch der Grundsatz der Öffentlichkeit zu wahren sein. Wenn zukünftig neben schriftlichen Zeugenaussagen auch audiovisuelle Aufzeichnungen treten können und der Wortlaut der Vernehmung insgesamt festgehalten wird, ermöglicht dies umfassendere Beweiswürdigungen auch durch Berufungsgerichte und holt gegenüber der schon heute gegebenen Praxis in anderen Jurisdiktionen und Schiedsverfahren auf.

Nähere Betrachtung bedarf die Umsetzung eines digitalen Verfahrens zur Geltendmachung von Kleinforderungen. Dies mag dem Abbau von Zugangshürden zum Rechtsschutz des Einzelnen dienen. Im Rahmen der Umsetzung muss jedoch gewährleistet sein, dass die Verfahrensrechte der Verfahrensgegner und deren Möglichkeit, sich wirksam gegen unberechtigte Inanspruchnahme zu verteidigen, ebenso verfassungsrechtlich geschützt sind und gewahrt werden müssen.

Englischsprachige Spezialkammern

Das weitere Anliegen der Koalition, englischsprachige Spezialkammern für internationale Handels- und Wirtschaftsstreitigkeiten zu ermöglichen (Seite 106 des Koalitionsvertrages), öffnet wie die bisherige Einrichtung von Commercial Courts in einzelnen Bundesländern zeigt (näheres hierzu hier), den Gerichtsstandort Deutschland weiter für internationale Rechtsstreitigkeiten.


Noerr ist Vorreiter bei der Abwehr von Kollektivklagen und Massenverfahren. Mit einem spezialisierten Team von über 40 Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten der Praxisgruppe Class & Mass Action Defense berät Noerr regelmäßig bei der Verteidigung gegen Kapitalanlegermusterverfahren, Musterfeststellungsklagen und Verbandsklageverfahren ebenso wie bei der Abwehr von Inanspruchnahmen durch strukturierte Klagevehikel und in Massenverfahren. 

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