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Erneutes Comeback des „Widerrufsjokers“?

17.09.2021

Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) hat am 09.09.2021 ein auch in der Öffentlichkeit viel beachtetes Urteil zur Verbraucherkreditrichtlinie (Richtlinie 2008/48/EG) verkündet (CURIA - Documents (europa.eu)). Dieses Urteil soll angeblich die Grundlage dafür bilden, dass Verbraucher auch noch Jahre nach Vertragsschluss ihren Darlehensvertrag widerrufen können. Von einem „Paukenschlag“ ist ebenso die Rede wie von einem Comeback des „Widerrufsjokers“ oder einer neuen „Widerrufs-Welle“.

Zum Inhalt der Entscheidung

Konkret hatte der EuGH im Urteil vom 09.09.2021 darüber zu entscheiden, welchen Inhalt einzelne in Art. 10 der Verbraucherkreditrichtlinie aufgeführte zwingenden Angaben („Pflichtangaben“) in einem – nach der Terminologie des BGB – Allgemein-Verbraucherdarlehensvertrag haben müssen. Diese Frage ist deshalb relevant, weil nach Art. 14 Abs. 1 der Verbraucherkreditrichtlinie die 14-tägige Widerrufsfrist des Verbrauchers erst an dem Tag zu laufen beginnt, an dem der Verbraucher alle Pflichtangaben zum Darlehen im Sinne des Art. 10 Abs. 2 der Verbraucherkreditrichtlinie in „klarer, prägnanter Form“ erhalten hat.

Die Entscheidung des EuGH wird deshalb als so spektakulär empfunden, weil der EuGH zum einen einzelne Vorgaben der Verbraucherkreditrichtlinie zu den Angaben im Darlehensvertrag anders auslegt als der Bundesgerichtshof (BGH) die damit korrespondierenden Bestimmungen des deutschen Rechts. Dies gilt etwa für die Angaben zum Verzugszinssatz (vgl. Art. 10 Abs. 2 lit. l) der Verbraucherkreditrichtlinie einerseits sowie Art. 247 § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 3 Abs. 1 Nr. 11 EGBGB andererseits) sowie für die Angaben zum Zugang zur außergerichtlichen Streitschlichtung (vgl. Art. 10 Abs. 2 lit. t) der Verbraucherkreditrichtlinie sowie Art. 247 § 7 Abs. 1 Nr. 4 EGBGB).

Zum anderen legt der EuGH Art. 14 Abs. 1 der Verbraucherkreditrichtlinie dahingehend aus, dass es dem Darlehensgeber verwehrt ist, sich auf den Einwand der Verwirkung und des (unionsrechtlich verstandenen) Rechtsmissbrauchs zu berufen, sofern eine Pflichtangabe im Darlehensvertrag nicht enthalten ist und auch nicht nachträglich ordnungsgemäß mitgeteilt wurde. Der BGH hat demgegenüber regelmäßig die auf § 242 BGB gestützte Verwirkung des Widerrufsrechts bejaht, wenn das Darlehen vor Erklärung des Widerrufs vollständig zurückgeführt worden ist und etwa bestehende Sicherheiten freigegeben worden sind (vgl. zusammenfassend bereits BGH, Beschl. v. 23.01.2018 – XI ZR 298/17, bei juris). Der BGH hat sich in der Vergangenheit auch nicht dazu verpflichtet gesehen, diese Frage zur Entscheidung dem EuGH vorzulegen (vgl. BGH, Beschl. v. 03.03.2020 – XI ZR 189/19 = BeckRS 2020, 5561).

Zu den Folgen des EuGH-Urteils

Ob das Urteil des EuGH tatsächlich dazu führt, dass angeblich Millionen Kreditverträge heute noch widerrufen werden können, wie dies vielfach dargestellt wird, ist fraglich. Unmittelbare Auswirkungen hat das Urteil des EuGH erst einmal nicht. Es obliegt nun den deutschen Gerichten, insbesondere dem BGH, zu entscheiden, ob und inwieweit das nationale Recht entsprechend den Vorgaben des EuGH zur Verbraucherkreditrichtlinie überhaupt richtlinienkonform ausgelegt werden kann. Diese Entscheidungen bleiben abzuwarten.

Zudem dürfte das Urteil des EuGH in erster Linie Relevanz nur für Allgemein-Verbraucherdarlehensverträge haben, weil die Verbraucherkreditrichtlinie für grundpfandrechtlich besicherte Darlehen nicht gilt und der BGH es bislang abgelehnt hat, die Normen des nationalen Darlehensrechts einheitlich im Sinne der Verbraucherkreditrichtlinie auszulegen (vgl. BGH, Beschl. v. 07.05.2020 – XI ZR 581/18, juris Rn. 3).

Unabhängig davon ist fraglich, ob das Urteil des EuGH für die Verbraucher tatsächlich so vielversprechend ist, wie es öffentlich behauptet wird. Nach den gesetzlichen Bestimmungen soll der Verbraucher nämlich aus einem Widerruf keine ökonomischen Vorteile ziehen können:

  • Ist der Darlehensvertrag mit dem Vertrag über den Erwerb eines PKW verbunden, ist der Darlehensnehmer nach den Vorschriften im BGB vorleistungspflichtig. Das heißt, er kann vom Darlehensgeber die Rückzahlung der von ihm erbrachten Zins- und Tilgungsleistungen erst dann verlangen, wenn er dem Darlehensgeber das Fahrzeug zurückgegeben hat. Ein Anspruch auf Nutzungsersatz hinsichtlich der von ihm gezahlten Zins- und Tilgungsraten steht dem Darlehensnehmer nicht zu. Zudem ist er gegenüber dem Darlehensgeber grundsätzlich zum Wertersatz für den eingetretenen Wertverlust verpflichtet.

  • Ist der Darlehensvertrag nicht mit dem Vertrag über den Erwerb eines PKW verbunden, schuldet der Darlehensnehmer dem Darlehensgeber nach den gesetzlichen Bestimmungen die Rückzahlung der Darlehensvaluta sowie Sollzinsen in vertraglich vereinbarter Höhe, und zwar bis zur vollständigen Rückzahlung der Valuta.

Ausblick

In jedem Fall aber zeigt das Urteil des EuGH anschaulich, dass sich die Diskussion um das Widerrufrecht des Verbrauchers nicht mehr auf die Widerrufsinformation beschränkt, sondern sich zunehmend auf die übrigen Pflichtangaben im Darlehensvertrag erstreckt. Da die Pflichtangaben auf den Vorgaben der Verbraucherkreditrichtlinie beruhen, ist es unerlässlich, die Vorgaben der Richtlinien stets im Blick zu behalten, wenn es um die Bewältigung oder die Vermeidung (künftiger) Rechtsstreitigkeiten geht.

 

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