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Neue Marktmacht-Faktoren für digitale Märkte

16.06.2017

Mit dem neuen § 18 Abs. 3a GWB wird der Analyserahmen bei der Bewertung von Marktstellungen in digitalen Märkten um neue, insbesondere technologisch bedingte Faktoren erweitert. Es bleibt abzuwarten, ob der neue „Werkzeugkasten“ den Bewertungsmaßstab für Marktmacht in digitalen Märkten nachhaltig verändert.

Die Digitalisierung verändert Wirtschaftsprozesse und diese Veränderungen sind eine Herausforderung für das Kartellrecht. So werden Wettbewerbsprobleme in digitalen Märkten durch die Beschleunigung wettbewerblicher Effekte oft verstärkt, Märkte „kippen“ schneller ins Monopol, Prozesse der Standardsetzung und Innovation laufen in einem deutlich rasanteren Tempo ab. Ein Beispiel: Die Art und Weise, in der wir in der analogen Welt Musik konsumieren, hat sich seit der Einführung der CD-Rom vor 35 Jahren kaum verändert. In der digitalen Welt beobachten wir bereits den Erfolg (und den Niedergang) des fünften oder sechsten Geschäftsmodells innerhalb von 10 Jahren.

Das deutsche Kartellrecht soll durch die 9. GWB-Novelle auf die damit einhergehenden Herausforderungen vorbereitet werden. Die Ergänzung durch § 18 Abs. 3a GWB betrifft die Erfassung von Marktmacht in digitalen Märkten und hat Auswirkungen auf Missbrauchsverfahren, aber auch auf materielle Fragen der Fusionskontrolle. Aber was ist das Problem?

Sowohl das deutsche als auch das europäische Kartellrecht basieren auf dem Marktmachtkonzept. Es soll jeweils nur dort eingreifen, wo Marktmacht vorliegt und diese Marktmacht zu Nachteilen für den Wettbewerb führen kann. Marktmacht wird anhand der Marktstruktur gemessen: Zunächst werden relevante Märkte abgegrenzt und sodann wird die Marktstellung der Anbieter bzw. Nachfrager auf diesen Märkten bestimmt. Dies geschieht im Wesentlichen durch die Berechnung von Marktanteilen und weiteren Faktoren wie Finanzkraft und dem Zugang zu Beschaffungs- und Absatzmärkten (sog. Plus-Faktoren). Nun konnte beobachtet werden, dass bestimmte, technologisch bedingte, Aspekte von digitalen Märkten in diesen Kriterien nicht vorkamen:

  • Digitale Märkte, insbesondere mehrseitige Märkte (sog. Plattformen), sind von sog. Netzwerkeffekten geprägt. Netzwerkeffekte sind mitnichten Phänomene der digitalen Welt, sie sind dort nur sehr viel stärker ausgeprägt (ein Klassiker der ökonomischen Literatur hierzu ist der Artikel der beiden Ökonomieprofessoren Michael Katz und Carl Shapiro aus Berkeley, „Systems Competition and Network Effects“ aus dem Jahr 1994, abrufbar hier). Als Netzwerkeffekt beschreibt die Ökonomie das Phänomen, dass sich der Nutzen, den ein Konsument aus einem Produkt erhält, mit der Anzahl der Konsumenten desselben oder eines anderweitig verknüpften Produktes verändert. Klassische Beispiele sind das Telefon oder Telefax, ein aktuelleres Beispiel liefert die digitale Welt: Soziale Netzwerke wie Facebook werden immer attraktiver, je mehr andere Nutzer dem Netzwerk beitreten. Ab einer bestimmten kritischen Masse „kippt“ das Phänomen in eine Form der Standardsetzung. „Das soziale Netzwerk“ ist dann gleichbedeutend mit: Facebook. Dieser Prozess, den man auch bei mehrseitigen Märkten wie Immobiliensuchplattformen oder Hotelportalen beobachten kann, wird Tipping genannt.

  • Das Benutzerverhalten auf digitalen Märkten verändert sich. Ein Beispiel ist die Form, in der Menschen Journalismus konsumieren. In der analogen Welt sind viele bereit, Geld für eine Zeitung auszugeben. In der digitalen Welt werden Nachrichten kostenlos konsumiert. Zudem verwenden viele Nutzer gleich mehrere Produkte gleichzeitig. Ein Beispiel liefert der lesenswerte Beschluss des Bundeskartellamts in einem Zusammenschlussverfahren im Bereich der Datingplattformen (Beschluss v. 22.10.2015 – B6-57/15, abrufbar hier): 72 % der befragten Nutzer verwenden mehrere Datingplattformen gleichzeitig. Der Grund: Dies erhöht die Chancen, einen passenden Partner zu finden. Dieses Benutzerverhalten, das in Online-Märkten stark ausgeprägt ist, und von dem Differenzierungsgrad der Angebote und von Wechselkosten abhängt, wird Multi-Homing genannt;

  • Die Kostenstrukturen von Anbietern in digitalen Märkten unterscheiden sich stark von analogen Märkten. Für ein Online-Reisebüro macht es grundsätzlich keinen Unterschied, ob zehn, hundert oder tausend Leute gleichzeitig die Angebote aufrufen. Ökonomen sprechen von geringen Grenzkosten für jeden zusätzlichen Nutzer. Die verbleibenden Fixkosten verteilen sich über die Anzahl Nutzer. Je größer die Anzahl der Nutzer, desto geringer die Kosten pro Nutzer. Dies verstärkt den Trend zur Größe und verschafft den größten Anbietern die geringsten Kosten. Man spricht insofern von Skaleneffekten;

  • In der digitalen Welt sind Innovationszyklen deutlich kürzer. Das Beispiel des Musikkonsums verdeutlicht dies. Das Schumpetersche Prinzip der schöpferischen Zerstörung kommt nirgendwo so stark zum Tragen wie hier. Schon der U.S. Court of Appeals des District of Columbia hat in dem berühmt gewordenen Microsoft I-Verfahren in 2001, in welchem es um die Aufspaltung von Microsoft ging, ein zentrales Argument von Microsoft wie folgt festgehalten: „Once a product or standard achieves wide acceptance, it becomes more or less entrenched […]. In technologically dynamic markets, however, such entrenchment may be temporary, because innovation may alter the field altogether“. Microsoft plädierte gegen ein Eingreifen des Kartellrechts, indem es den eigenen Untergang voraussagte.

  • Die Sammlung, Auswertung und Nutzung von persönlichen Daten ist die Grundlage einer Vielzahl von Geschäftsmodellen in der digitalen Welt. Damit entstehen nicht nur datenschutzrechtliche Probleme, sondern auch kartellrechtliche Herausforderungen. Exklusiv gesammelte oder ausgewertete Daten können nämlich Marktmacht vermitteln. Und auch die Sammlung von Daten kann kartellrechtlich relevant werden. 2016 leitete das Bundeskartellamt ein Verfahren gegen Facebook ein. Der Vorwurf: Facebook als marktbeherrschendes Unternehmen (auf dem Markt für soziale Netzwerke) missbrauche diese Stellung, indem es gegen datenschutzrechtliche Vorschriften verstoße. Die Folgefragen, die sich aus dieser Überschneidung von Datenschutzrecht und Kartellrecht ergeben, sind vielfältig.

§ 18 Abs. 3a GWB zählt nun die oben genannten fünf Faktoren auf, die „insbesondere bei mehrseitigen Märkten und Netzwerken“ zu berücksichtigen sind. Dies erweitert den Werkzeugkasten der Kartellbehörden und könnte ein Schritt in die Richtung eines neuen Marktmachtkonzeptes für die digitale Welt sein. Die Bedeutung der Marktstrukturanalyse in digitalen Märkten wird nicht ganz verschwinden, sie wird aber durch das neue Recht relativiert. Andererseits konnten viele der genannten Aspekte auch bereits unter dem alten Recht geprüft werden. Es wird abzuwarten sein, ob die neue „Check-Liste“, die jedoch nicht erschöpfend zu verstehen ist, den Bewertungsmaßstab bei der Analyse von Marktmacht in digitalen Märkten ändern wird.

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