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Staats­anleihen­kauf­programm PSPP der Europäischen Zentralbank

14.05.2020

Das Bundesverfassungsgericht hat das Staatsanleihenkaufprogramm PSPP der Europäischen Zentralbank (EZB) für teilweise verfassungswidrig erklärt (Urteil vom 05.05.2020, Az. 2 BvR 859/15 u.a.). Das Gericht sieht darin, dass die EZB bei der Durchführung des PSPP nur dessen währungspolitisches Ziel, nicht jedoch dessen wirtschaftspolitische Auswirkungen berücksichtigt habe, einen Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und eine offensichtliche und strukturell bedeutsame Kompetenzüberschreitung. Damit stellt sich das Gericht gegen die Einschätzung des Europäischen Gerichtshofs.

Das Urteil ist historisch. Gleichwohl scheint der Widerstand, den das Urteil zunächst hervorgerufen hat, nicht gerechtfertigt. Das Bundesverfassungsgericht hat klargestellt, dass das Anleihenkaufprogramm bei entsprechender Begründung auch unter deutscher Beteiligung fortgesetzt werden kann. Außerdem hat es einen Verstoß des PSPP gegen das Verbot monetärer Staatsfinanzierung abgelehnt. Das Urteil erscheint vielmehr geeignet, Rechtssicherheit auch für zukünftige Programme zu gewährleisten und für Wirtschaftsteilnehmer ein Mehr an Planungssicherheit und Transparenz zu schaffen. 

Gegenstand der Entscheidung 

Gegenstand der Entscheidung ist ein Staatsanleihenkaufprogramm der EZB, das sog. Public Sector Purchase Programm (PSPP). Im Rahmen des PSPP erwerben die EZB und die Zentralbanken der Euro-Mitgliedstaaten nach einem bestimmten Kapitalschlüssel und unter bestimmten Bedingungen Staatsanleihen und ähnliche auf Euro lautende marktfähige Schuldtitel, die vor allem von der Zentralregierung eines Euro-Mitgliedstaats begeben werden. Das PSPP soll eine Lockerung der monetären und finanziellen Bedingungen in der Eurozone – einschließlich der Finanzierungsbedingungen für Wirtschaft und Privathaushalte – bewirken, dadurch Konsum und Investitionen fördern und die Inflationsrate in der Eurozone auf knapp unter 2 % anheben. Nicht Gegenstand der Entscheidung sind finanzielle Hilfsmaßnahmen von EU und EZB im Zusammenhang mit der Corona-Krise.

Hintergrund: Kompetenzabgrenzung zwischen EU und Mitgliedstaaten

Im Zentrum der Entscheidung stehen die Kompetenzgrenzen der EU und die Abgrenzung der der EZB zustehenden Währungspolitik zu der grundsätzlich den Mitgliedstaaten zustehenden Wirtschaftspolitik. Nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung dürfen die EU und ihre Organe keine Maßnahmen ergreifen darf, die nicht von der Übertragung mitgliedstaatlicher Hoheitsrechte auf die EU gedeckt sind (Art. 5 Abs. 2 EUV). 

Aus Sicht des Grundgesetzes wird dadurch gewährleistet, dass die Grenzen der verfassungsrechtlich zulässigen Integration Deutschlands in die EU eingehalten werden. Dies gilt insbesondere für die Wahrung der demokratischen Legitimation der in Deutschland ausgeübten Hoheitsgewalt. Diese darf im Zuge der Übertragung von Hoheitsrechten auf die EU nicht abgegeben werden (sog. integrationsfeste Verfassungsidentität des Grundgesetzes (Art. 23 Abs. 1 Satz 3, 79 Abs. 3 GG). 

Deshalb dürfen die EU und ihre Organe aus verfassungsrechtlicher Sicht nur im Rahmen der ihnen übertragenen Kompetenzen tätig werden und insbesondere keine neue Zuständigkeiten und Befugnisse eigenständig herleiten (sog. Kompetenz-Kompetenz). Deutschen Hoheitsträgern – primär Bundesregierung und Bundestag – obliegt eine dauerhafte Verantwortung dafür, dass die EU und ihre Organe diese Grenzen einhalten. 

Zur Kontrolle behält sich das Bundesverfassungsgericht vor, Maßnahmen der EU auf offensichtliche und strukturell bedeutsame Kompetenzüberschreitungen zu überprüfen (sog. ultra vires-Kontrolle).  Allerdings muss die ultra-vires-Kontrolle dabei zurückhaltend und europafreundlich durchgeführt werden. 

Verstoß gegen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bei der Kompetenzabgrenzung, jedoch kein Verstoß gegen das Verbot monetärer Staatsfinanzierung

Vor diesem Hintergrund erkennt das Bundesverfassungsgericht im PSPP – zum ersten Mal – eine offensichtliche und strukturell bedeutsame Kompetenzüberschreitung.

Das Gericht hält es für unerlässlich, zur Kompetenzabgrenzung zwischen Währungs- und Wirtschaftspolitik die Folgen eines Programms zum Ankauf von Staatsanleihen zu bewerten. Nach seiner Ansicht setzt die Verhältnismäßigkeit des PSPP voraus, dass das währungspolitische Ziel und die wirtschaftspolitischen Auswirkungen benannt, gewichtet und gegeneinander abgewogen werden. Das PSPP verbessert die Refinanzierungsbedingungen der Mitgliedstaaten, erhöht das Risiko von Immobilien- und Aktienblasen und zeitigt weitreichende ökonomische und soziale Auswirkungen. Diese Abwägung lasse sich dem für das PSPP maßgeblichen Beschluss der EZB jedoch nicht entnehmen. Die unbedingte Verfolgung des währungspolitischen Ziels unter Ausblendung der mit dem Programm verbundenen wirtschafts- und fiskalpolitischen Auswirkungen missachte offensichtlich den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und verschiebe das Kompetenzgefüge unzulässig zulasten der Mitgliedstaaten.

Das Bundesverfassungsgericht stellt sich damit gegen die Einschätzung des EuGH. Dieser hatte das PSPP auf Vorlage des Bundesverfassungsgerichts für mit dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung vereinbar angesehen (Urteil vom 11.12.2018, Weiss u.a., Rs. C-493/17). Das Bundesverfassungsgericht hält die Handhabung der Kompetenzabgrenzung durch den EuGH jedoch für schlechterdings nicht mehr vertretbar. 

Einen Verstoß des PSPP gegen das Verbot der monetären Staatsfinanzierung (Art. 123 Abs. 1 AEUV) hat das Bundesverfassungsgericht hingegen nicht angenommen. Auch die PSPP-Risikoverteilung zwischen den nationalen Zentralbanken stehe im Einklang mit verfassungsrechtlichen Integrationsgrenzen. Denn die Risikoverteilung ermögliche keine Umverteilung der Staatsschulden zwischen den Mitgliedstaaten der Eurozone und führe nicht zu einer – vom Grundgesetz verbotenen – Haftungsübernahme für Willensentscheidungen Dritter. 

Staatsanleihenkaufprogramm verfassungskonform möglich

Bei alledem stellt das Bundesverfassungsgericht heraus, dass eine verfassungskonforme Ausgestaltung des PSPP möglich sei, wenn der EZB-Rat in einem neuen Beschluss nachvollziehbar darlegt, dass die mit dem PSPP angestrebten währungspolitischen Ziele nicht außer Verhältnis zu den damit verbundenen wirtschafts- und fiskalpolitischen Auswirkungen stehen. 

Auswirkungen des Urteils

In der deutschen und gerade in der europäischen Öffentlichkeit wird das Urteil als problematisch angesehen, weil hiermit erstmals ein mitgliedstaatliches Gericht die Letztentscheidungsbefugnis des EuGH über Unionsrecht anzweifle und hierdurch die Rechtsgemeinschaft der EU infrage stelle. 

Es ist nachvollziehbar, dass die Entscheidung bei EU und anderen Mitgliedstaaten zunächst auf Befremden stößt. Doch das Bundesverfassungsgericht hat es sich mit seiner detailliert begründeten Entscheidung nicht leicht gemacht und dabei intensiv mit der Rechtsprechung des EuGH auseinandergesetzt. Das Gericht betont: Wenn jeder Mitgliedstaat ohne weiteres für sich in Anspruch nähme, durch eigene Gerichte über die Gültigkeit von EU-Rechtsakten zu entscheiden, wären Vorrang und einheitliche Anwendung des Unionsrechts gefährdet. Würden aber andererseits die Mitgliedstaaten vollständig auf die ultra-vires-Kontrolle verzichten, so wäre die Einhaltung des Kompetenzgefüges zur freien Disposition der EU-Organe gestellt. 

Das Bundesverfassungsgericht hat damit eine Ausnahmeentscheidung gefällt, die auch die praktischen Auswirkungen des Richterspruchs genau berücksichtigt. Es wendet sich gegen eine schleichende Verschiebung der Kompetenzen der EU-Organe, die einer Änderung der vertraglichen Grundlage der EU unter Einbeziehung der Parlamente der Mitgliedstaaten bedürfte. Insoweit stärkt das Urteil die demokratische Legitimation europäischer Entscheidungen. Das Urteil fußt auf einer langen Reihe verfassungsgerichtlicher Entscheidungen, mit denen das Bundesverfassungsgericht die Europäische Integration wohlwollend begleitet und zugleich die Einhaltung verfassungsrechtlicher Grenzen eingefordert hat.

Auch nach dieser Entscheidung dürfte kein Zweifel daran bestehen, dass Staatsanleihenkaufprogramme und andere Finanzierungsprogramme der EZB gerade auch in Krisenzeiten nicht an Karlsruhe scheitern müssen. Die Einforderung einer klaren Begründung komplexer und auswirkungsreicher Maßnahmen kann zu einem Mehr an Transparenz der Entscheidungen der EZB führen. Für Wirtschaftsteilnehmer und Investoren ist das grundsätzlich ein gutes Zeichen. Denn es steigert die Vorhersehbarkeit der Entscheidungen der EZB und ermöglicht eine klarere Betrachtung der Folgewirkungen.

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