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Unwirksamkeit der A1-Bescheinigung bei betrügerischem oder missbräuchlichem Verhalten

19.02.2018

Grundsätzlich müssen Arbeitgeber ihre Mitarbeiter in dem Sozialversicherungssystem des Staates versichern, in welchem die Arbeitnehmer tatsächlich ihre Arbeitsleistung erbringen; dies gilt auch dann, wenn der Arbeitgeber im Ausland ansässig ist. Eine Ausnahme hiervon besteht nur in Fällen der Arbeitnehmerentsendung, also dann, wenn der Arbeitgeber in seinem Heimatstaat eine nennenswerte Geschäftstätigkeit ausübt und aufgrund eines Auftrags im Ausland seine Arbeitnehmer nur vorübergehend für begrenzte Zeit in einem anderen Staat tätig werden. In diesem Fall können die Arbeitnehmer weiterhin in der Sozialversicherung ihres Heimatstaates versichert bleiben. Der Sozialversicherungsträger stellt auf Antrag eine sog. A1-Bescheinigung (früher E101-Bescheinigung) aus. Jeder EU-Mitgliedsstaat muss die A1-Bescheinigung eines anderen Staates anerkennen; hält er die Voraussetzungen für die Ausstellung einer A1-Bescheinigung nicht für gegeben, kann er allenfalls auf den ausstellenden EU-Mitgliedsstaat hinwirken, die A1-Bescheinigung zurückzunehmen. Solange aber eine A1-Bescheinigung ausgestellt ist, hat diese bindende Wirkung; der ausländische Arbeitgeber kann daher bei Nichtentrichtung deutscher Sozialversicherungsbeiträge nicht wegen Vorenthaltens von Arbeitsentgelt nach § 266a StGB bestraft werden.

Mit Urteil vom 6. Februar 2018 in der Rechtssache C-359/16 hat der Europäische Gerichtshof diesen Grundsatz jedoch eingeschränkt. Die Mitgliedsstaaten bzw. ihre Sozialversicherungsträger sind zur loyalen Zusammenarbeit verpflichtet. Hat der Sozialversicherungsträger eines EU-Mitgliedsstaates Zweifel an der Richtigkeit einer A1-Bescheinigung, muss der ausstellende Sozialversicherungsträger prüfen, ob deren Voraussetzungen (weiterhin) vorliegen und sie ggf. zurücknehmen. Der andere Sozialversicherungsträger kann, wenn er mit der Entscheidung des ausstellenden nicht einverstanden ist, ggf. Klage im Ausstellungsstaat erheben oder ein Vertragsverletzungsverfahren einleiten.

Hat der Arbeitgeber jedoch in betrügerischer oder missbräuchlicher Weise eine A1-Bescheinigung erlangt, obgleich die Voraussetzungen für deren Erteilung nicht vorlagen und nimmt der ausstellende Staat diese Bescheinigung nicht zurück, so kann die Bindungswirkung entfallen und die Gerichte des Entsendestaates haben die Möglichkeit, in einem gerichtlichen Verfahren die Unrichtigkeit der A1-Bescheinigung und die Sozialversicherungspflicht in dem Entsendestaat festzustellen. Dies allerdings nur dann, wenn sowohl objektiv als auch subjektiv ein Fall betrügerischen oder missbräuchlichen Verhaltens durch den Arbeitgeber vorliegt, der Ausstellungsstaat innerhalb angemessener Frist keine Überprüfung der Bescheinigung vornimmt und der Arbeitgeber im gerichtlichen Verfahren die Möglichkeit hatte, Beweise für die Richtigkeit der A1-Bescheinigung vorzulegen. Unter diesen Voraussetzungen kann im Fall betrügerischen oder missbräuchlichen Verhaltens auch eine Verurteilung wegen einer Strafbartat nach § 266a StGB  in Betracht kommen.

Aufgrund dieser Wendung der Rechtsprechung des EuGH können sich die Auftraggeber ausländischer Unternehmen im Hinblick auf die Haftung für Sozialversicherungsbeiträge nicht mehr unbeschränkt in Sicherheit wiegen, wenn ausländische Auftragnehmer eine A1-Bescheinigung vorliegen. In der Baubranche haften Auftraggeber nach § 150 SGB VII nämlich auch für nicht bezahlte Sozialversicherungsbeiträge ihrer Nachunternehmer. Sie sind daher im eigenen Interesse gehalten, entsprechende KYC-Prozesse zu implementieren und zumindest das Vorliegen der Voraussetzungen für die Erteilung von A1-Bescheinigungen zu plausibilisieren.

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