Arbeitnehmerbeiträge zur Sozialversicherung im Schutzschirmverfahren – Ein Zielkonflikt
Mit dem im Jahr 2012 eingeführten sog. "Schutzschirmverfahren" (§ 270 b InsO) wollte der Gesetzgeber für insolvenzbedrohte Unternehmen einen Anreiz für eine frühzeitige Einleitung des Insolvenzverfahrens setzen. Die Eigenverwaltung im Schutzschirmverfahren soll dem Schuldner während des Insolvenzeröffnungsverfahrens stärkeren Einfluss auf die Sanierung belassen und ihm die Vorbereitung eines Insolvenzplans ermöglichen. Das Schutzschirmverfahren schafft einen begrenzten Zeitraum (bis zu drei Monaten), in dem dies geschehen kann, bis das Insolvenzgericht über den Antrag auf Insolvenzeröffnung entscheidet. In dieser Zeit muss der Schuldner nicht befürchten, dass der Geschäftsbetrieb durch Vollstreckungen oder Verwertung von Sicherheiten zum Erliegen gebracht wird oder er die Kontrolle über sein Vermögen verliert. Überwacht wird er allerdings im Interesse aller Gläubiger durch einen vorläufigen Sachwalter (§§ 270 b Abs. 2, 270 a Abs. 1, 274, 275 InsO).
Im Schutzschirmverfahren war es bislang verbreitete Praxis, zunächst Arbeitnehmerbeiträge zur Sozialversicherung für die eingesetzten Arbeitnehmer abzuführen, die Beitragszahlungen aber nach Insolvenzeröffnung durch den Sachwalter anzufechten. Für den Schuldner (bzw. dessen Organe) besteht bei vorläufiger Eigenverwaltung nämlich mit Blick auf diese Sozialversicherungsbeiträge folgendes Dilemma: Einerseits den Gläubigergleichbehandlungsgrundsatz beachten zu müssen, d.h. keine Zahlungen auf Insolvenzforderungen zu leisten, und andererseits zu vermeiden, sich nach § 266 a Abs. 1 StGB strafbar bzw. gemäß § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 266 a StGB zivilrechtlich haftbar zu machen. Dem sollte das Verfahren einer vorläufigen Auszahlung mit anschließender Anfechtung vorbeugen. Dieser Lösung entzieht das jüngste Urteil des BGH zum Schutzschirmverfahren (BGH, Urteil vom 16. Juni 2016 – IX ZR 114/15 – LG München I) allerdings die Grundlage. Die Sanierungspraxis muss alternative Lösungen finden. Letztlich ist der Gesetzgeber gefragt.
Klassische Haftungsvermeidungsstrategie: zunächst Auszahlung, dann Anfechtung
In dem der Entscheidung zugrunde liegenden Fall, hatte das Insolvenzgericht auf Eigenantrag der Schuldnerin im Februar 2014 das Schutzschirmverfahren angeordnet und die Schuldnerin nach §§ 270b Abs. 3, 55 Abs. 2 InsO zur Begründung von Masseverbindlichkeiten ermächtigt. Die Schuldnerin informierte die gesetzliche Krankenkasse als Einzugsstelle für den Gesamtsozialversicherungsbeitrag im selben Monat über diesen Umstand. Sie kündigte an, die Arbeitnehmeranteile zwar vorläufig abzuführen, wies aber gleichzeitig darauf hin, dass diese Zahlungen nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens angefochten werden könnten. Der Sachwalter des im Mai 2014 eröffneten Insolvenzverfahrens in Eigenverwaltung forderte im Wege der Insolvenzanfechtung gemäß § 130 Abs. 2 S. 1 InsO (Deckungsanfechtung) die Rückzahlung der geleisteten Beiträge. Erstinstanzlich hatte seine Klage Erfolg.
BGH: bei Auszahlung keine Anfechtung
Der BGH folgte dem in der Sprungrevision der beklagten Krankenkasse nicht. Nach der Bewertung des IX. Senats kann die Zahlung der Arbeitnehmerbeiträge zur Sozialversicherung nicht angefochten werden. Es handele sich um unanfechtbare Masseverbindlichkeiten.
- Habe das Insolvenzgericht gemäß § 270b Abs. 3. S. 2 InsO angeordnet, dass die Schuldnerin Masseverbindlichkeiten begründe (§ 55 Abs. 2 InsO), stehe die Schuldnerin einem starken vorläufigen Insolvenzverwalter (§§ 21 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 Fall 1, 22 Abs. 1 S. 1 InsO) gleich. Daher stehe der Schuldnerin – wie dem starken vorläufigen Verwalter – kein Wahlrecht zwischen der Begründung von Masseverbindlichkeiten bzw. Insolvenzforderungen zu. Die insolvenzrechtliche Qualifikation richte sich allein nach dem Gesetz, insbesondere nach § 55 Abs. 2 InsO. Danach lägen hier Masseverbindlichkeiten vor.
- Dass § 55 Abs. 2 S. 1 InsO nicht eingreife, sei zwar richtig, aber unerheblich. Es handele sich nämlich um Masseverbindlichkeiten gemäß § 55 Abs. 2 S. 2 InsO, die dadurch begründet worden seien, dass der Schuldner die Arbeitnehmer weiter beschäftigt habe. Die Arbeitnehmeranteile zur Sozialversicherung seien Bestandteil des Bruttolohnanspruchs und daher wie dieser als Masseverbindlichkeit zu qualifizieren. Dafür spreche auch § 55 Abs. 3 S. 1 InsO, der sonst keinen Sinn mache.
- Die Erfüllung von Masseverbindlichkeiten sei auch nicht ausnahmsweise anfechtbar, wenn sie nicht der Sanierung oder Betriebsfortführung gedient habe und dies dem Gläubiger bekannt war. Der seitens der Schuldnerin erklärte Vorbehalt der Anfechtung sei folgenlos. Das Gesetz sehe eine Anfechtbarkeit von Masseverbindlichkeiten in Ausnahmefällen nicht vor.
- Schließlich scheide auch eine nachträgliche Umqualifikation in Insolvenzforderungen gemäß § 55 Abs. 3 S. 2 InsO aus. Zwar sei diese Vorschrift in den Fällen des § 270b Abs. 3 InsO im Schutzschirmverfahren analog anwendbar. Allerdings greife sie nur ein, soweit die Arbeitnehmerbeiträge nicht abgeführt und daher von der Agentur für Arbeit beglichen wurden. Seien sie – wie hier – einmal vom Schuldner geleistet worden, könnten sie nicht mehr angefochten und zurückgefordert werden.
Bedeutung für die Sanierungspraxis
Damit ergibt sich im Schutzschirmverfahren folgendes Dilemma: Der Schuldner ist - durch § 266 a StGB strafrechtlich abgesichert – sozialversicherungsrechtlich zur Beitragsabführung verpflichtet (§ 28 e Abs. 1 S. 1 SGB IV) und gemäß § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 266 a StGB zivilrechtlich haftbar. Insolvenzrechtlich darf er aber nicht auf Insolvenzforderungen zahlen. Es besteht ein Zielkonflikt zwischen insolvenzrechtlichen und (strafrechtlich abgesicherten) sozialversicherungsrechtlichen Vorgaben. Dass der BGH in Bezug auf die Arbeitnehmerbeiträge von einer Masseverbindlichkeit ausgeht, vermeidet diesen Konflikt letztlich nicht. Denn würde der Schuldner nicht zahlen, würde für den Insolvenzgeldzeitraum (§ 165 Abs. 1 S. 1 SGB III) gemäß § 175 Abs. 1 SGB III die Agentur für Arbeit die Arbeitnehmerbeiträge an die Krankenkasse als Einzugsstelle (§ 28 h SGB IV) zahlen. Die bis zu diesem Zeitpunkt als Masseverbindlichkeiten zu qualifizierenden Beitragsforderungen würden analog § 55 Abs. 3 S. 2 InsO mit ihrer Zahlung durch die Agentur für Arbeit gemäß § 175 Abs. 1 SGB III Insolvenzforderungen werden, da sie gemäß § 175 Abs. 2 S. 1 SGB III "gegenüber dem Arbeitgeber bestehen" bleiben. Erst durch seine Zahlung selbst generiert der Schuldner nach der Rechtsprechung des BGH dauerhafte Masseverbindlichkeiten, die nicht angefochten werden können. Zahlt er nicht, schont er die Masse, weil es letztlich bei Insolvenzforderungen bleibt.
Die (sorgfältig begründete) Entscheidung des BGH erleichtert Sanierungen unter Nutzung eines Schutzschirmverfahrens nicht. Sie verstärkt praktisch den Zielkonflikt zwischen insolvenzrechtlichen und (strafrechtlich abgesicherten) sozialversicherungsrechtlichen Vorgaben. Die Sanierungspraxis muss nach alternativen Lösungen suchen.
Eine denkbare Lösung zeigt ein aktueller Beschluss des AG Heilbronn (Beschluss vom 23.3.2016 – 12 IN 149/16) auf:
- Es wird gerichtlich ein Zustimmungsvorbehalt zu Gunsten des Sachwalters angeordnet. Dieser verweigert die Zustimmung zur Zahlung der Arbeitnehmerbeiträge zur Sozialversicherung, da sie gegen den in § 1 InsO geregelten Gläubigergleichbehandlungsgrundsatz verstößt.
- Die straf- und zivilrechtliche Haftung der Organe des Schuldners dürfte damit entfallen. Die Berechtigung zu entsprechenden Anordnungen leitet das AG Heilbronn aus dem Recht, allgemeine Sicherungsmaßnahmen gemäß § 21 Abs. 1 S. 1 InsO zu erlassen, her.
Daneben besteht die Möglichkeit, dass der Sachwalter die Kassenführung an sich zieht (§ 275 Abs. 2 InsO), so die Zahlung für die Organe des Schuldners unmöglich bzw. unzumutbar macht und damit das Eingreifen von § 266 a Abs. 1 StGB ausschließt (vgl. dazu LG Hamburg v. 19.11.2014 – 303 O 335/13).
Schließlich verbleibt nach Teilen der Literatur die Möglichkeit, lediglich Einzelermächtigungen zu beantragen, soweit sie erforderlich sind, und dies für die Abführung der Arbeitnehmerbeiträge zur Sozialversicherung nicht zu tun. Dadurch sei eine Strafbarkeit nach § 266 a Abs. 1 StGB ebenfalls ausgeschlossen.
Mit diesen Maßnahmen dürften zwar Haftungs- und Strafbarkeitsrisiken gemindert oder ausgeschlossen sein. Sie berauben das Schutzschirmverfahren aber gerade der schuldnerischen Eigenständigkeit und Flexibilität, die es als Sanierungsinstrument attraktiv machen sollten. Der Gesetzgeber sollte hier nachbessern, zumal der Schuldner letztlich bereits "vorgeleistet" hat, um die Arbeitnehmerbeiträge in dieser Situation zur Förderung der Sanierung gerade nicht leisten zu müssen: Er hat schließlich die erforderlichen Aufwendungen der Agentur für Arbeit durch seine Zahlungen im Rahmen der Insolvenzgeldumlage mitfinanziert (§ 358 Abs. 3 Nr. 1 SGB III). Auch diese "Vorleistung" würde jedenfalls in Teilen entwertet, wenn der Schuldner mittelbar doch gezwungen wäre, Sozialversicherungsbeiträge für die von ihm eingesetzten Arbeitnehmer zu zahlen, um sich die Eigenständigkeit und Flexibilität zu erhalten.
Bestens
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