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Neue Sammelklage in Deutschland – Update

16.02.2023

BMJ veröffentlicht Referentenentwurf und startet Anhörung der interessierten Kreise und Verbände

 

Deutschland ist unter den 24 Mitgliedstaaten, gegen die die Europäische Kommission am 27.01.2023 ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet hat, weil die EU-Verbandsklagenrichtline nicht fristgerecht zum 25.12.2022 umgesetzt wurde. Ziel des Gesetzgebers ist es nun, die Richtlinie jedenfalls bis zur Anwendungsfrist am 25.06.2023 umzusetzen.

Am 16.02.2023 hat das Bundesministerium der Justiz (BMJ) seinen Referentenentwurf veröffentlicht, der sich bereits seit Mitte September 2022 in der Ressortabstimmung befindet. Zentrale Punkte des BMJ-Entwurfs sind innerhalb und außerhalb der Bundesregierung weiterhin heftig umstritten. Zur Beschleunigung des Umsetzungsverfahrens läuft parallel zur Ressortabstimmung nunmehr die Anhörung der beteiligten Kreise und Verbände. Diese können bis zum 03.03.2023 zu dem BMJ-Entwurf und den in der Bundesregierung noch diskutierten offenen Punkten Stellung nehmen.

Ablauf der neuen Abhilfeklage

Kernstück des Referentenentwurfs bleibt die Einführung einer kollektiven Leistungsklage (Abhilfeklage), die neben die Musterfeststellungsklage tritt (dazu bereits unser Homepagebeitrag vom 28.09.2022 und Schläfke/Lühmann/Stegemann, PHi 2022, 138).

Qualifizierte Einrichtungen können eine Abhilfeklage erheben, wenn nachgewiesen wird, dass von der Klage die Ansprüche von 50 Personen abhängen und diese Ansprüche gleichartig sind. Betroffene Personen können sich der Klage bis zum Tag vor der ersten mündlichen Verhandlung anschließen. Damit gilt wie bisher das sogenannte Opt-in-Modell. Neu ist, dass auch kleinere Unternehmen – solche, die weniger als 50 Mitarbeiter beschäftigen und deren Jahresumsatz oder Jahresbilanz EUR 10 Mio. nicht übersteigt – ihre Ansprüche anmelden können. Da der Entwurf keine Begrenzung auf originäre Ansprüche enthält, besteht ein erhebliches Umgehungs- und Missbrauchspotenzial, weil beispielsweise nicht ausgeschlossen ist, dass prozessfinanzierte Klagevehikel an sie abgetretene Ansprüche anmelden.

Mit der Verbandsklage können Ansprüche gegen ein Unternehmen in „bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten“ eingeklagt werden. Der Entwurf geht damit weit über die auf europäisches Verbraucherrecht begrenzte Richtlinie hinaus. In Deutschland könnte die Abhilfeklage insbesondere bei datenschutzrechtlichen Schadensersatzansprüchen, Produkthaftungsfällen, Kartellschadensersatzansprüchen, Kapitalanlagefällen und der Durchsetzung des Digital Markets Act Bedeutung erlangen.

Das Verfahren nach einer Abhilfeklage soll in mehrere Abschnitte unterteilt werden und im Grundsatz wie folgt ablaufen:

Grafik aus dem Website-Artikel „Neue Sammelklage in Deutschland“

Schadensschätzung und Bestimmung eines kollektiven Gesamtbetrages

In dem Abhilfeverfahren obliegt es der qualifizierten Einrichtung, konkrete Anhaltspunkte für die Höhe des Schadens darzulegen. Das Gericht ist sodann berechtigt, den Schaden entsprechend § 287 ZPO zu schätzen.

Im Abhilfeendurteil spricht das Gericht einen kollektiven Gesamtbetrag zu, bei dem es in geeigneten Fällen unterstellen darf, dass alle angemeldeten Ansprüche in voller Höhe berechtigt sind. Ob die angemeldeten Personen berechtigt sind, auf der Grundlage des Abhilfeurteils Ersatz zu verlangen, werden erst im Umsetzungsverfahren geprüft. Etwaig zu viel zugesprochene Beträge werden dem Unternehmen erstattet.

Prozessfinanzierung möglich

Eine Prozessfinanzierung ist grundsätzlich möglich. Bestimmte Zulässigkeitsvoraussetzungen sollen dabei sicherstellen, dass Interessenkonflikte zwischen Verbrauchern und dem Prozessfinanzierer vermieden werden. Da qualifizierte Einrichtungen oft nur limitierte finanzielle Mittel haben, können Prozessfinanzierungen den Handlungsspielraum der qualifizierten Einrichtungen deutlich erweitern. Es ist allerdings fraglich, welche Motivation Prozessfinanzierer haben könnten, eine Abhilfeklage zu finanzieren. Denn grundsätzlich wird der gesamte eingeklagte Betrag an die Verbraucher ausgezahlt, ohne dass zuvor eine Erfolgsbeteiligung vereinbart werden kann.

Gewinnabschöpfungsklagen als Investitionsobjekt für Prozessfinanzierer

Besondere Risiken für Unternehmen birgt die geplante Öffnung der Gewinnabschöpfungsklage nach § 10 UWG. Diese soll künftig bereits bei grob fahrlässigen UWG-Verstößen möglich sein und durch einen Prozessfinanzierer finanziert werden dürfen, wenn das Bundesamt für Justiz den Finanzierungsbedingungen zustimmt. Eine entsprechende Prozessfinanzierung hatte der Bundesgerichtshof in der Vergangenheit wegen eines Verstoßes gegen Treu und Glauben stets abgelehnt. Damit dürfte die Gewinnabschöpfungsklage künftig – anders als wohl die Abhilfeklage – ein interessantes kollektivrechtliches Investitionsobjekt sein.

Offene Punkte

Während das Grundmodell der Abhilfeklage dem Vernehmen nach steht, konzentriert sich die Debatte innerhalb der Bundesregierung insbesondere auf die folgenden Aspekte:

Zeitpunkt des Opt-in: Anders als im Referentenwurf vorgesehen, befürworten insbesondere das von den Grünen geführte Bundesministerium für Umwelt und Verbraucherschutz (BMUV) sowie Verbraucherverbände eine Anmeldung der Verbraucher erst nach Erlass eines Abhilfeurteils. Ob diese Abkehr vom bisherigen Modell gerechtfertigt ist, ist aus rechtsstaatlichen Erwägungen jedoch fraglich.

Verjährungshemmung bei Abhilfeklage: Der Referentenentwurf sieht richtigerweise vor, dass die Verjährung nur für Ansprüche von angemeldeten Verbrauchern gehemmt wird. Das BMUV und Verbraucherverbände sprechen sich hingegen für eine anmeldungsunabhängige Verjährungshemmung aus. Abhilfeklagen würden danach für die Dauer des Verfahrens die Ansprüche aller betroffenen Verbraucher hemmen. Eine solche Wirkung ist für die Reform der Unterlassungsklage, bei der Verbraucher nicht beitreten müssen, bereits vorgesehen. Warum dies auch dann gelten soll, wenn Verbraucher die Chance haben, die Verjährung ihrer Ansprüche durch Beitritt zu hemmen, erschließt sich indes nicht.

Anforderungen an Klagebefugnis: Während der Referentenentwurf an den bewährten Anforderungen des § 606 Abs. 1 ZPO für seriöse Einrichtungen festhält, treten BMUV und Verbraucherverbände für geringere Anforderungen an die Klagebefugnis ein. Nach Presseberichten ist das BMJ nunmehr bereit, diesen Forderungen nachzukommen. So soll die für die Klagebefugnis relevante Schwelle von 350 Mitgliedern auf lediglich 75 Mitglieder herabgesetzt und die Mindesteintragszeit von vier auf ein Jahr gesenkt werden.

Darlegungs- und Beweislast: Diskutiert wird zudem, ob die gesetzliche Notwendigkeit für eine Regelung besteht, die Darlegungs- und Beweislast dahingehend zu regeln, dass klageberechtigten Stellen die Beweisführung erleichtert wird, wenn eine von Klägerseite zu beweisende Tatsache lediglich dem Unternehmer bekannt ist.

Zusätzliche Einführung einer Gruppenklage: Das BMUV und Verbraucherverbände befürworten schließlich noch die zusätzliche – von der Richtlinie nicht geforderte – Einführung eines Gruppenklageverfahrens. Bei einem solchen Kollektivverfahren kann der Betroffene das Verfahren selbst einleiten; die Klagebefugnis wäre dann nicht mehr auf qualifizierte Einrichtungen beschränkt. Ein entsprechender Gesetzesentwurf der Grünen (BT-Drs. 19/243) war im Jahr 2017 gescheitert.

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Noerr ist Vorreiter bei der Abwehr von Kollektivklagen und Massenverfahren. Mit einem spezialisierten Team von über 50 Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten der Praxisgruppe Class & Mass Action Defense berät Noerr regelmäßig bei der Verteidigung gegen Kapitalanlegermusterverfahren, Musterfeststellungsklagen und Verbandsklageverfahren ebenso wie bei der Abwehr von Inanspruchnahmen durch strukturierte Klagevehikel und in Massenverfahren.

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