Qualifizierung und Weiterbildung als Rahmenbedingung und Grundvoraussetzung der Arbeitswelt 4.0 - Teil 9
„Qualifizierungsbetrieb“ statt Personalabbau?
Die Arbeitswelt 4.0 löst infolge veränderter Arbeitsplatzanforderungen einen starken Weiterbildungs- und Requalifizierungsbedarf aus, da Arbeitsplätze des bisherigen Zuschnitts wegfallen und neue entstehen (Teil 1). Konsequenz daraus ist häufig auch ein Bedürfnis für Re- und Umstrukturierungsmaßnahmen, zum Teil in Form von Betriebsänderungen. In Teil 8 dieser Serie hatten wir die Rahmenbedingungen der Qualifizierungsmaßnahmen für neu entstehende Arbeitsplätze in sog. „Qualifizierungssozialplänen“ vorgestellt. Über eine derartige punktuelle Maßnahme hinaus geht die Einrichtung sog. „Qualifizierungsbetriebe“, die derzeit an verschiedenen Stellen diskutiert wird.Was ist ein „Qualifizierungsbetrieb“?
Ein Qualifizierungsbetrieb ist vom Grundansatz her eine Dauereinrichtung. Bei Einsatz eines Qualifizierungsbetriebs werden nämlich an sich freizusetzende Mitarbeiter, deren Arbeitsverhältnisse nicht betriebsbedingt beendet werden können oder sollen,
- in einer neuen betrieblichen Einheit zusammengefasst,
- in ihr weitergebildet und
- im Anschluss innerhalb des Unternehmens in einen „gewöhnlichen“ Betrieb versetzt bzw. konzernintern oder extern „verliehen“.
Im Qualifizierungsbetrieb geht der fehl- oder nichtqualifizierte Mitarbeiter aber zunächst nicht mehr seinen bisherigen - typischerweise weggefallenen - Aufgaben nach, sondern qualifiziert sich und hält sich im Übrigen für interne und externe Einsätze bereit. Ist (vorübergehend) keines von beiden möglich, wird er von der Arbeit freigestellt.
Mit Qualifizierungsbetrieben sollen aus Unternehmenssicht durch Weiterqualifizierung fehl- oder nichtqualifizierter Mitarbeiter die Schwierigkeiten überwunden werden, die beim Fehlen von Beschäftigungsmöglichkeiten mit der bisherigen Qualifikation infolge vorhergehender Zusagen von Sonderkündigungsschutz, aber auch im allgemeinen mit betriebsbedingten Kündigungen aus rechtlichen, tatsächlichen oder „politischen“ Gründen verbunden sein können. Eine Beschäftigungs- und Qualifizierungs- oder „Transfergesellschaft“ im Sinne des SGB III scheidet in dieser Konstellation mangels Förderfähigkeit nach den §§ 110 ff. SGB III (Transferleistungen) aus, weil die in ihr tätigen Mitarbeiter nicht von Arbeitslosigkeit bedroht sind.
Förderung durch den Gesetzgeber
Ein Qualifizierungsbetrieb kann auf Basis des Qualifizierungschancengesetzes nach § 82 Abs. 1 und 3 SGB III gefördert werden. Denn danach erfolgt eine Förderung (gemäß der in § 82 Abs. 3 Satz 4 SGB III vorgesehenen Staffelung), wenn
- Fertigkeiten, Kenntnisse und Fähigkeiten vermittelt werden, die über ausschließlich arbeitsplatzbezogene kurzfristige Anpassungsfortbildungen hinausgehen,
- der Erwerb des Berufsabschlusses, für den nach bundes- oder landesrechtlichen Vorschriften eine Ausbildungsdauer von mindestens zwei Jahren festgelegt ist, in der Regel mindestens vier Jahre zurückliegt,
- die Arbeitnehmerin oder der Arbeitnehmer in den letzten vier Jahren vor Antragsstellung nicht an einer nach dieser Vorschrift geförderten beruflichen Weiterbildung teilgenommen hat,
- die Maßnahme von einem zugelassenen Träger im Betrieb, dem sie angehören, durchgeführt wird und mehr als 160 Stunden dauert und
- die Maßnahme und der Träger der Maßnahme für die Förderung zugelassen sind.
Hintergrund dieser Förderung sind gerade die durch die Arbeitswelt 4.0 bedingten Herausforderungen. Die Förderung soll nämlich darauf gerichtet sein, Mitarbeiter, die berufliche Tätigkeiten ausüben, die durch Technologien ersetzt werden können oder in sonstiger Weise vom Strukturwandel betroffen sind, eine Anpassung und Fortentwicklung ihrer beruflichen Kompetenzen zu ermöglichen, um den genannten Herausforderungen besser begegnen zu können.
Im Unternehmen oder extern?
Im Unternehmen selbst ist der Qualifizierungsbetrieb zumeist deshalb angesiedelt, weil Mitarbeiter dann durch einfache Versetzung in ihn eingegliedert werden können. Auch wenn einer weitergehende rechtliche Verselbstständigung in Form einer Ansiedlung in einem gesellschaftsrechtlich eigenständigen Unternehmen zumeist wünschenswert ist, geschieht dies häufig nicht, weil dies einen Arbeitgeberwechsel nötig macht, von dem die Mitarbeiter überzeugt werden müssen. Nicht hilfreich ist in diesem Kontext die neueste Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) zur Übertragung von Arbeitsverhältnissen im Rahmen umwandlungsrechtlicher Maßnahmen (vgl. BAG, Urt. v. 19.10.2017 – 8 AZR 63/16), die den Mitarbeitern - auch außerhalb von Betriebsübergängen - ein weit reichendes Wahlrecht hinsichtlich der Zuordnung zu einem Arbeitgeber einräumt.
Eigenständiger Betrieb?
Nicht nur, weil dann die Förderungsfähigkeit nach § 82 Abs. 3 SGB III evidenter sein kann, sondern auch, weil hierdurch eher eigene betriebliche Regelungen und Vergütungsstrukturen möglich werden, ist es in der Regel sinnvoll, die Qualifizierungseinheit jedenfalls als eigenständigen Betrieb im arbeitsrechtlichen Sinne auszugestalten. Dazu bedarf es – über eine hinreichende Materialausstattung hinaus – einer eigenständigen Leitung in den wesentlichen personellen und sozialen Angelegenheiten. Bedenken, die das BAG hinsichtlich einer selbstständigen betrieblichen Einheit gehegt hat, wenn Mitarbeiter dort lediglich „mit der punktuellen Abarbeitung einzelner Aufgaben befasst und im Übrigen im Rahmen eines Weiterbildungs- und Schulungskonzepts für den internen, wie externen Arbeitsmarkt weitergebildet werden sollten“ (dann soll es an einem eigenständigen Betriebszweck fehlen, vgl. BAG, Urt. v. 19.10.2017 – 8 AZR 63/16, Rn. 35), dürften hier nicht durchgreifen, weil es sich bei dem Qualifizierungsbetrieb planmäßig um einer Dauereinrichtung handelt.
Versetzung in den Qualifizierungsbetrieb
Ist der Qualifizierungsbetrieb unternehmensintern als Betrieb verselbstständigt, können Mitarbeiter (vorbehaltlich abweichender arbeitsvertraglicher Regelung) ohne Arbeitgeberwechsel kraft arbeitgeberseitigen Direktionsrechts in ihn versetzt werden. Etwaige Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats nach § 99 BetrVG sind dabei ebenso zu beachten wie einschlägige Auswahlrichtlinien nach § 95 BetrVG. Eine Sozialauswahl muss der Arbeitgeber hingegen nach der Rechtsprechung des BAG zwar nicht durchführen, die Sozialauswahlkriterien aber im Rahmen der Billigkeitsabwägung nach § 106 GewO berücksichtigen. Eine kollektivrechtlich abgestimmte Gesamtlösung erleichtert die Implementierung zumeist erheblich.
Weiterbildungspflicht im Qualifizierungsbetrieb
Der Arbeitgeber kann die dorthin versetzten Mitarbeiter im Qualifizierungsbetrieb in den in unserem Beitrag 4 gekennzeichneten Grenzen anweisen, sich im Rahmen des vereinbarten Berufsbildes fortzubilden.
Einsatz in anderen Betrieben des Unternehmens oder Konzerns bzw. bei Dritten
Derart weiterqualifiziert können Mitarbeiter - ggf. projektbezogen oder dauerhaft - aufgrund entsprechender Versetzung kraft Direktionsrechts in anderen Betrieben desselben Unternehmens eingesetzt werden.
Ebenfalls möglich sind - ohne dass der Arbeitgeber einer Arbeitnehmerüberlassungserlaubnis bedarf - Einsätze in anderen Unternehmen des Konzerns (§ 1 Abs. 3 Nr. 2 AÜG). Sofern der Arbeitsvertrag des Mitarbeiters eine entsprechend weite Versetzungsklausel enthält, können derartige Einsätze kraft Direktionsrechts erfolgen. Andernfalls ist die Zustimmung des Mitarbeiters erforderlich (§ 613 S. 2 BGB).
Bei konzernfremden Unternehmen können die im Qualifizierungsbetrieb gebündelten Mitarbeiter - vorbehaltlich einer Ausnahme nach § 1 Abs. 3 AÜG - nur auf Basis einer Arbeitnehmerüberlassungserlaubnis nach § 1 Abs. 1 AÜG eingesetzt werden.
Stets beachtet werden müssen in diesem Zusammenhang bestehende Mitbestimmungsrechte nach § 99 BetrVG.
Wenn die Requalifizierung nicht gelingt
Die Bündelung fehl- oder nicht qualifizierter Mitarbeiter, deren Arbeitsverhältnis vor ihrer Versetzung in den Qualifizierungsbetrieb betriebsbedingt nicht gekündigt werden konnte, führt hinsichtlich der Möglichkeiten einer betriebsbedingten Kündigung zumeist nicht zu einer Erleichterung. Bei einer unternehmensinternen Lösung wird - abhängig von dessen Ausgestaltung - insbesondere weiterhin der kollektivrechtliche Sonderkündigungsschutz gelten. Hinzukommen können Schwierigkeiten bei der Darlegung des Wegfalls des Arbeitsplatzes und der Sozialauswahl.
Denkbar sind eher personen- oder verhaltensbedingte Kündigungen (die häufig kollektivvertraglich nicht ausgeschlossen sind, weil sich der Sonderkündigungsschutz auf betriebsbedingte Kündigungen beschränkt). Sie kommen - nach der vom BAG entwickelten „Schwerpunkttheorie“ - dann in Betracht, wenn (i) sich der Mitarbeiter (ggf. nach Abmahnung) schwerpunktmäßig weigert, an einer angemessenen und zumutbaren Fortbildungsmaßnahme teilzunehmen, bzw. (ii) die Qualifizierungsmaßnahme nicht erfolgreich ist. Hier kann an die in Teil 5 dargestellten Grundsätze angeknüpft werden.
Fazit
Über einen „Qualifizierungssozialplan“ hinausgehend können „Qualifizierungsbetriebe“ durch Re- und Weiterqualifikation der betroffenen Mitarbeiter eine sinnvolle Alternative zu einem klassischen Personalabbau sein. Die bei der Entscheidung über einen „Qualifizierungssozialplan“ maßgebliche Abwägung (vgl. Teil 8) wird hier verstetigt, was mit einem deutlich größeren Investment des Unternehmens verbunden ist (das aber Kosten dadurch spart, dass (Sonder-)Kündigungsschutz nicht teuer „abgekauft“ werden muss). Interessant ist diese Gestaltungsmöglichkeit vor allem für Unternehmen mit einer relevanten Zahl an „unkündbaren“ Mitarbeitern, d.h. solchen Mitarbeitern, die (zumeist tarifvertraglich) gegen betriebsbedingte Kündigungen besonders geschützt sind. Sie erhalten hierdurch Weiterentwicklungs- und Einsatzmöglichkeiten, die - soweit sie digitalisierungsbedingt sind - sogar nach § 82 SGB III gefördert sein können. Werden sie erfolgreich genutzt, ergibt sich eine win-win-Situation, die für den digitalisierungsbedingten Strukturwandel hin zur Arbeitswelt 4.0 Vorbildcharakter haben kann. Ist die Weiterbildung nicht erfolgreich, hat der Arbeitgeber seine Unterstützungsmöglichkeiten angemessen ausgeschöpft und eine Trennung aus verhaltens- oder personenbedingten Gründen wird möglich.
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