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Keine Zweck­entfremdung von Corona-Mitteln – Das Bundes­verfassungs­gericht erklärt 60 Mrd. Euro-Haushalt des Klima- und Transformations­fonds für verfassungs­widrig

23.11.2023

Seit dem 15. November 2023 erfährt das Finanzverfassungsrecht fast schon ungeteilte Aufmerksamkeit: Das Bundesverfassungsgericht („BVerfG“) hat erstmalig ein Urteil zur Schuldenbremse des Grundgesetzes gefällt und Artikel 1 und 2 des Zweiten Nachtragshaushaltsgesetzes 2021 für nichtig erklärt. Das Urteil hat Kreditermächtigungen in Höhe von 60 Mrd. Euro für den Klima- und Transformationsfonds („KTF“) – dem vormaligen Energie- und Klimafonds („EKF“) – hinfällig gemacht. Die Folgen dieses Urteils sind schon jetzt immens und bereiten nicht nur der Politik Kopfzerbrechen.

 

1. Rechtliche und wirtschaftliche Ausgangslange

Die in der Verfassung verankerte Schuldenbremse regelt, dass der Haushalt grundsätzlich ohne neue Schulden (Kreditaufnahmen) gestemmt werden muss (Art. 109 Abs. 3 GG). Eine Ausnahme hiervon besteht gemäß Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG für außergewöhnliche Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen. Der Gesetzgeber hat beim Zweiten Nachtragshaushaltsgesetz 2021 versucht, diese Ausnahme fruchtbar zu machen. Dem hat das BVerfG nun eine eindeutige Absage erteilt.

Das Urteil wirft neben rechtsdogmatischen auch politische und wirtschaftliche Fragen auf. Politisch stellt sich die Frage, inwieweit das Urteil des BVerfG Leitplanken für die Aufstellung künftiger Haushaltspläne vorgibt und wie mit gegenwärtigen Kreditermächtigungen zu verfahren ist. Wirtschaftlich stellt sich die Frage, was das Urteil konkret für Unternehmen bedeutet, die Förderungen aus dem KTF erhalten oder erhalten möchten. Denn durch das Urteil des BVerfG fehlen dem KTF 60 Mrd. Euro, die er durch das Zweite Nachtragshaushaltsgesetz 2021 erhalten hatte. Der KTF ist ein Sondervermögen des Bundes, der bei der Finanzierung der Energiewende und des Kilmaschutzes helfen soll. Gefördert werden aus dem Fonds etwa energetische Gebäudesanierungen oder der Ausbau der erneuerbaren Energien und künftig auch der Ausbau der Wasserstoffwirtschaft im Zuge der Dekarbonisierung der Industrie.

Der folgende Blogbeitrag zeigt die Begründung dieses wegweisenden Urteils des BVerfG auf (hierzu Ziffer 2). Die Darstellung wird sodann um einen Blick auf die haushaltspolitischen (hierzu Ziffer 3) und wirtschaftlichen Folgen für Unternehmen und Investoren (hierzu Ziffer 4) abgerundet, die sich aus dem Karlsruher Richterspruch ergeben.

 

2. Kernaussagen des BVerfG

Die Coronakrise machte auch vor dem Finanzhaushalt des Bundes nicht halt. Um die weitreichenden Folgen der Pandemie aufzufangen, erhöhte der Bundestag den Etat des Bundes für das Jahr 2021 im Ersten Nachtraghaushaltsgesetz 2021 um Kreditermächtigungen in Höhe 60 Mrd. Euro. Als sich im Verlauf des Haushaltsjahres 2021 allerdings herausstellte, dass eine Kreditaufnahme in dieser Höhe nicht benötigt würde, beschloss der Bundestag Anfang 2022 das Zweite Nachtragshaushaltsgesetz zum Jahreshaushalt 2021. Durch dieses Gesetz wurden die Kreditermächtigungen in Höhe von 60 Mrd. Euro rückwirkend „umgebucht“ und das Volumen des EKF (nun KTF) von ca. 42 Mrd. Euro auf ca. 102 Mrd. Euro aufgestockt. Der Gesetzgeber begründet die Zuführung der Mittel an den EKF damit, dass dem Klimaschutz und dem Ausstieg aus der Nutzung fossiler Energiequellen eine besondere Qualität zur Stärkung der durch die Coronakrise angeschlagenen Volkswirtschaft zukomme.

Diesem gesetzgeberischen „Kniff“ hat das BVerfG nun eine deutliche Absage erteilt. Das Zweite Nachtragshaushaltsgesetz entspreche nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen und zwar aus drei, jeweils für sich tragfähigen Gründen:

Zum einen hält das BVerfG der Begründung des Gesetzgebers eine ungeschriebene Tatbestandsvoraussetzung des Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG entgegen: den sog. sachlichen Veranlassungszusammenhang (Grund 1). Nach dieser Voraussetzung muss zwischen der Notsituation auf der einen Seite und der außerregulären Kreditermächtigung auf der anderen Seite ein konkreter Bezug bestehen; die außerreguläre Kreditermächtigung muss – auch der Höhe nach – auf die Notlage als Anlass rückführbar sein. Der Gesetzgeber habe hierfür zwar einen Beurteilungs- und Einschätzungsspielraum. Gleichwohl treffe ihn eine Darlegungslast, deren konkrete Reichweite vom Einzelfall abhänge: Je weiter etwa das krisenauslösende Ereignis in der Vergangenheit liege, desto enger sei der Beurteilungs- und Entscheidungsspielraum und desto detaillierter müsse der Gesetzgeber seiner Darlegungslast nachkommen. Dieser Darlegungslast, die wegen der 2022 bereits zwei Jahre währenden Pandemie, verschärft sei, sei der Gesetzgeber beim Zweiten Nachtragshaushaltsgesetz 2021 aber nicht nachgekommen. Der Gesetzgeber habe es nämlich unterlassen, die Notwendigkeit der nun konkret ergriffenen Maßnahmen und eine Evaluierung der bisherigen Krisenbewältigungsmaßnahmen (insbesondere konkrete Maßnahme aus dem EKF) aufzuzeigen. Zudem fehle es an einer Begründung, wieso die bisherigen Mittel nicht verwendet wurden.

Zum anderen hat das BVerfG einen Verstoß gegen wesentliche Haushaltsgrundsätze festgestellt, die den Mechanismus der Schuldenbremse systematisch flankieren und für die Kreditaufnahmen modifiziert gelten (Grund 2). Gemeint sind die Grundsätze der Jährlichkeit, der Jährigkeit und der Fälligkeit:

  • Nach dem Grundsatz der Jährlichkeit ist die zulässige Höhe der Kreditaufnahme nach Jahren getrennt zu ermitteln. Nach Ablauf eines Jahres ist die zulässige Nettokreditaufnahme für das Folgejahr neu zu ermitteln.
  • Der Grundsatz der Jährigkeit besagt, dass Kreditermächtigung und Kreditaufnahme auf dasselbe Haushaltsjahr fallen müssen.
  • Gemäß dem Grundsatz der Fälligkeit sind die im jeweiligen Haushaltsjahr voraussichtlich kassenwirksam werdenden Einnahmen und Ausgaben zu veranschlagen, sodass das Jahr der Kreditaufnahme entscheidend ist.

Schließlich verstößt das Zweite Nachtragshaushaltsgesetz 2021 auch gegen das Gebot der Vorherigkeit (Grund 3). Danach muss die Aufstellung des Haushaltsplanes vor dem Haushaltsjahr erfolgen. Für einen Nachtragshaushalt ist das Gebot dahingehend modifiziert, dass der Gesetzgeber ein Nachtragshaushaltsgesetz nur bis zum Ende des zu beplanenden Haushaltsjahres erlassen darf.

 

3. Haushaltspolitische Folgen für andere Kreditermächtigungen und künftige Haushalte

Das BVerfG hat mit seinem Urteil den rechtlichen Maßstab für die Kreditaufnahme in Krisensituation herausgearbeitet. Dies hat Auswirkungen auf künftige und gegenwärtige haushaltswirtschaftliche Pläne. Der Gesetzgeber ist gehalten, zu überprüfen, wie und warum er künftig die Schuldenbremse aussetzt und inwieweit dies mit den vom BVerfG nun aufgestellten Vorgaben vereinbar ist. In den Blick zu nehmen sind aber nicht nur künftige, sondern auch bereits bestehende Kreditermächtigungen.

Für das laufende Rechnungsjahr hat das Bundesministerium der Finanzen eine haushaltswirtschaftliche Sperre gemäß § 41 der Bundeshaushaltsordnung verhängt. Diese bezieht sich allerdings nicht auf die aktuellen Ausgaben des laufenden Haushaltsjahres, sondern nur auf Verpflichtungsermächtigungen, also das Eingehen von Verpflichtungen zur Leistung von Ausgaben in künftigen Jahren. Zwar ist das Eingehen derartiger Verpflichtungen fortan nicht gänzlich ausgeschlossen. Jedoch bedürfen sie der vorherigen Zustimmung des Bundesministeriums der Finanzen.

Von der haushaltswirtschaftlichen Sperre betroffen ist auch der im Jahr 2022 aktivierte Wirtschaftsstabilisierungsfonds („WSF“). Hierbei handelt es sich um ein Sondervermögen, das der Bundestag 2022 zur Abfederung der Folgen der Energiekrise aktiviert hatte. Er umfasst Kreditermächtigungen von insgesamt 200 Mrd. Euro und soll u.a. die Entlastung der Verbraucher von den gestiegenen Energiepreisen durch die Strom- und Gaspreisbremse finanzieren. Im Haushaltsjahr 2022 nahm der Bund den WSF allerdings nur teilweise in Anspruch. Stattdessen verlagerte er Kreditaufnahmen auf künftige Haushaltsjahre und beabsichtigte, die Kreditermächtigungen des WSF erst nach und nach „anzuzapfen“. Nach den Maßstäben des Urteils des BVerfG stellt sich die Frage, ob dieses Vorgehen nicht gegen die Grundsätze der Jährigkeit und der Fälligkeit verstößt. Denn gemäß § 26b Abs. 1 des Gesetzes zur Errichtung eines Finanzmarkt- und eines Wirtschaftsstabilisierungsfonds („Stabilisierungsfondsgesetz“) gelten die Kreditermächtigungen des WSF zwar nur für das Jahr 2022, können nach § 26b Abs. 2 Stabilisierungsfondsgesetz aber auch in den folgenden Jahren in Anspruch genommen werden. Auch könnte es problematisch sein, ob für das Haushaltsjahr 2024 überhaupt noch der notwendige Veranlassungszusammenhang zwischen der Energiekrise 2022 und der außerregulären Kreditermächtigung besteht. Denn auch der Beginn dieser Notsituation läge dann bereits weit zurück, was nach der jüngsten Rechtsprechung des BVerfG eine erhöhte Darlegungslast des Gesetzgebers nach sich ziehen könnte.

Die Ampel-Koalition hat zwischenzeitlich angekündigt, den Haushaltshalt 2023 mit einer neuen Ausnahme von der Schuldenbremse zu stabilisieren. Ob es ihr gelingt, hierbei den neuen Vorgaben des BVerfG zu genügen, wird insbesondere davon abhängen, ob die Notsituation ausreichend dargelegt und der notwendige Veranlassungszusammenhang damit begründet wird.


4. Offene Folgefragen für Unternehmen und Investoren, die auf Zuwendungen aus dem KTF hoffen

Für Unternehmen und Investoren in der Energie- und Infrastrukturbranche vergrößern sich damit die Herausforderung. Welche mittel- und langfristigen Folgen das für die Investitionstätigkeit in Deutschland gerade für solche Assetklassen bedeutet, die ohne staatliche Förderung momentan noch nicht rentabel sind (z.B. grüner Wasserstoff), bleibt abzuwarten.

Neben den Folgen für bereits bestehende und künftige Kreditermächtigungen sind insbesondere auch die Auswirkungen auf Unternehmen, die auf Zuwendungen aus dem KTF hoffen, derzeit schwer absehbar. Die Nichtigkeit des Zweiten Nachtragshaushalts führt zunächst nämlich nur dazu, dass dem KTF für die Finanzierung von Vorhaben zur Transformation und Dekarbonisierung der Wirtschaft eingeplante Mittel im Umfang von rund 60 Mrd. Euro fehlen. Offen ist jedoch, wie sich dies auf Einzelmaßnahmen, die aus dem KTF gefördert werden sollten, auswirkt. In besonderem Maße kurzfristig betroffen sind folgende Energie- und Infrastrukturmaßnahmen, für die dem Entwurf des Wirtschaftsplans für KTF für die Jahre 2024 bis 2027 (Zusammenfassung abrufbar hier) Ausgaben aus dem KTF eingeplant waren: 

Förderbereich Geplante Förderung
in Milliarden Euro 
Gebäude (Sanierung und Neubau)
18,9
EEG-Förderung
12,6
Weiterentwicklung Elektromobilität
inklusive Ausbau der Ladeinfrastruktur
4,7
Eisenbahninfrastruktur 4,0
Förderung Halbleiterproduktion
4,0
Aufbau der Wasserstoffindustrie
3,8
Entlastungen für besonders
energieintensive Unternehmen
2,6

 

Aus rechtlicher Sicht ist eine Orientierung danach angezeigt, ob bereits ein Rechtsanspruch erworben wurde und wie irreversibel dieser Rechtsanspruch ist:

  • Möglich ist es, dass ein Rechtsanspruch auf einer gesetzlichen Grundlage beruht. So erfolgt beispielsweise die Auszahlung der Mittel für den EEG-Finanzierungsbedarf an die Übertragungsnetzbetreiber auf der Grundlage des Energiefinanzierungsgesetzes.
  • Ein Rechtsanspruch kann daneben auf einem bestandskräftigen Verwaltungsakt in Gestalt eines Förderbescheides oder einem bereits abgeschlossenen öffentlich-rechtlichen (Förder-)Vertrag beruhen. Hier ist jedoch eine Prüfung im Einzelfall angezeigt, insbesondere mit Blick auf etwaige in den Bescheiden oder Verträgen enthaltene Widerrufsvorbehalte.
  • Schwerer abzusehen sind die Auswirkungen in Konstellationen, in denen noch keine hinreichend gesicherte Rechtsposition besteht, etwa weil die Förderung eines Vorhabens mit Mitteln aus dem KTF bereits beantragt, aber noch nicht bewilligt wurde.

Für Unternehmen, die auf Zuwendungen aus dem KTF hoffen, kommt es also stets auf die Umstände des konkreten Einzelfalls an, die näher zu prüfen und zu bewerten sind.

Zudem empfiehlt es sich für die Unternehmen und auch Investoren in der Energie- und Infrastrukturbranche, die weitere politische Entwicklung zu beobachten: Denn welche Maßnahmen konkret betroffen sein werden, um die entstandenen Finanzierungslücken zu schließen, ist derzeit noch nicht absehbar. Für die Planung des Haushaltsjahres 2024 hat das Urteil des BVerfG jedenfalls bereits jetzt sichtbare Konsequenzen. Die für den 23. November 2023 angesetzte Sitzung des Haushaltsausschusses des Deutschen Bundestags wurde abgesagt, um Zeit zu gewinnen – Zeit, die erforderlich ist, um die vom BVerfG aufgestellten Leitplanken für Kreditaufnahmen zu bewerten und bei der Aufstellung des Haushaltsplans 2024 zu beachten. Eine bloße Streichung der geplanten Subventionen zur Energiewende und Klimaschutz aus dem KTF (sowie ggf. anderen Sondervermögen) ist dabei sicherlich keine Lösung. Denn laut Bundesverfassungsgericht vom 24. März 2021 (Aktenzeichen 1 BvR 2656/18, 1 BvR 288/20, 1 BvR 96/20, 1 BvR 78/20) verpflichtet das Grundgesetz den Staat gleichsam zur Einhaltung der Schuldbremse und zu effektivem Klimaschutz, mithin zur Fortführung von Maßnahmen zur Energiewende. Die Bundesregierung hat demzufolge zwischenzeitlich erklärt, dass durch den Bund bereits zugesagte Verpflichtungen eingehalten werden sollen und auch die Fördermittel für den Austausch alter Öl- und Gasheizungen sowie die Förderprogramme für klimafreundlichen Neubau und Wohneigentumsförderung nicht vom Stopp betroffen sein sollen.

Bei anderen Maßnahmen ist die derzeitige politische Diskussion nicht so eindeutig: von der Aufweichung der Schuldenbremse über die Kürzung bestehender bzw. geplanter Förderungen (unter anderem die Nichtverlängerung der Energiepreisbremsen, Kürzungen im Sozialbereich oder die Reduzierung des Förderumfanges der Chipfabriken und der Bahninfrastruktur) bis hin zur Schaffung neuer Einnahmequellen (Klimaabgabe, Erhöhung der Co2-Abgabe) werden derzeit viele Szenarien geprüft und diskutiert. Einig scheint sich die Regierung einzig darin zu sein, dass es ohne (erhebliche) Investitionen in die Energiewende und die erforderliche Infrastruktur nicht gelingen wird, die großen Herausforderungen dieser Zeit zu meistern.

Trotz aller Unsicherheiten angesichts des Urteils, gibt es hingegen gute Neuigkeiten für die Energie- und Infrastrukturbranche aus Brüssel: die Europäische Kommission hat am 20.11.2023 eine teilweise Verlängerung des befristeten Krisen- und Transformationsrahmens (Temporary Crisis and Transition Framework – „TCTF“) beschlossen, so dass zumindest bis Mitte kommenden Jahres auf Grundlage des TCTF bestimmte Beihilfen an Unternehmen, die aktuell von den Sanktionen und höheren Energiepreisen akut betroffen sind, weiterhin vereinfacht und rechtssicher gewährt werden wenn sie denn finanziert werden können (vgl. den gestrigen Beitrag unserer Partnerin für Kartell- und Beihilfenrecht Sarah Blazek). 

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