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Update: Neue Sammelklage in Deutschland – Bundeskabinett beschließt Regierungsentwurf

31.03.2023

Deutschland ist unter den 24 Mitgliedstaaten, gegen die die Europäische Kommission am 27.01.2023 ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet hat, weil die EU-Verbandsklagenrichtline nicht fristgerecht zum 25.12.2022 umgesetzt wurde. Ziel des Gesetzgebers ist es nun, die Richtlinie jedenfalls bis zur Anwendungsfrist am 25.06.2023 umzusetzen. Nach langem Hin und Her hat das Bundeskabinett am 29.03.2023 den Regierungsentwurf zur Umsetzung der Richtlinie verabschiedet und damit den Weg für eine fristgerechte Einführung bereitet.

Ablauf der neuen Abhilfeklage

Kernstück des Regierungsentwurfs bleibt die Einführung einer kollektiven Leistungsklage (Abhilfeklage), die neben die Musterfeststellungsklage tritt (dazu bereits unser Homepagebeitrag vom 16.02.2023 und Schläfke/Lühmann/Stegemann, PHi 2022, 138).

Qualifizierte Einrichtungen können eine Abhilfeklage erheben, wenn nachgewiesen wird, dass von der Klage die Ansprüche von 50 Personen abhängen und diese Ansprüche gleichartig sind. Die bewährten Anforderungen des § 606 Abs. 1 ZPO für die Klagebefugnis seriöser Einrichtungen (350 Mitglieder und Mindesteintragungszeit von vier Jahren) werden gestrichen. Ausreichend sind künftig 75 Mitglieder und eine Mindesteintragungszeit von einem Jahr. Damit können sich künftig Verbände anlassbezogen noch während laufender Verjährungsfristen gründen und Klagen erheben.

Voraussetzung ist auch weiterhin, dass sich betroffene Personen anmelden, um an der Verbandsklage teilzunehmen. Damit gilt wie bisher das Opt-in-Modell. Anmeldungen sind künftig noch zwei Monate nach dem ersten Termin zur mündlichen Verhandlung möglich. Urteile und gerichtliche Vergleiche vor Ablauf der Anmeldefrist sind ausgeschlossen.

Kleine Unternehmen, das heißt solche, die weniger als 50 Mitarbeiter beschäftigen und deren Jahresumsatz oder Jahresbilanz EUR 10 Mio. nicht übersteigt, können ihre Ansprüche ebenfalls anmelden. Da der Entwurf keine Begrenzung auf originäre Ansprüche enthält, besteht nach dem Wortlaut des Entwurfs ein erhebliches Umgehungs- und Missbrauchspotenzial, weil beispielsweise nicht ausgeschlossen ist, dass prozessfinanzierte Klagevehikel an sie abgetretene Ansprüche anmelden.

Mit der Verbandsklage können Ansprüche gegen ein Unternehmen in „bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten“ eingeklagt werden. Der Entwurf geht damit weit über die auf europäisches Verbraucherrecht begrenzte Richtlinie hinaus. In Deutschland könnte die Abhilfeklage insbesondere bei datenschutzrechtlichen Schadensersatzansprüchen, Produkthaftungsfällen, Kartellschadensersatzansprüchen, Kapitalanlagefällen und der Durchsetzung des Digital Markets Act Bedeutung erlangen.

Das Verfahren nach einer Abhilfeklage soll in mehrere Abschnitte unterteilt werden und im Grundsatz wie folgt ablaufen:

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Schadensschätzung und Bestimmung eines kollektiven Gesamtbetrages

In dem Abhilfeverfahren obliegt es der qualifizierten Einrichtung, konkrete Anhaltspunkte für die Höhe des Schadens darzulegen. Das Gericht ist sodann berechtigt, den Schaden entsprechend § 287 ZPO zu schätzen.

Im Abhilfeendurteil spricht das Gericht einen kollektiven Gesamtbetrag zu, bei dem es in geeigneten Fällen unterstellen darf, dass alle angemeldeten Ansprüche in voller Höhe berechtigt sind. Ob die angemeldeten Personen berechtigt sind, auf der Grundlage des Abhilfeurteils Ersatz zu verlangen, werden erst im Umsetzungsverfahren geprüft. Etwaig zu viel zugesprochene Beträge werden dem Unternehmen erstattet.

Prozessfinanzierung möglich

Eine Prozessfinanzierung ist grundsätzlich möglich. Bestimmte Zulässigkeitsvoraussetzungen sollen dabei sicherstellen, dass Interessenkonflikte zwischen Verbrauchern und dem Prozessfinanzierer vermieden werden. Da qualifizierte Einrichtungen oft nur limitierte finanzielle Mittel haben, können Prozessfinanzierungen den Handlungsspielraum der qualifizierten Einrichtungen deutlich erweitern. Es ist allerdings fraglich, welche Motivation Prozessfinanzierer haben könnten, eine Abhilfeklage zu finanzieren. Denn grundsätzlich wird der gesamte eingeklagte Betrag an die Verbraucher ausgezahlt, ohne dass zuvor eine Erfolgsbeteiligung vereinbart werden kann.

Gewinnabschöpfungsklagen als Investitionsobjekt für Prozessfinanzierer

Besondere Risiken für Unternehmen birgt die geplante Öffnung der Gewinnabschöpfungsklage nach § 10 UWG. Diese soll künftig bereits bei grob fahrlässigen UWG-Verstößen möglich sein und durch einen Prozessfinanzierer finanziert werden dürfen, wenn das Bundesamt für Justiz den Finanzierungsbedingungen zustimmt. Eine entsprechende Prozessfinanzierung hatte der Bundesgerichtshof in der Vergangenheit wegen eines Verstoßes gegen Treu und Glauben stets abgelehnt. Damit dürfte die Gewinnabschöpfungsklage künftig – anders als wohl die Abhilfeklage – ein interessantes kollektivrechtliches Investitionsobjekt sein.

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Noerr ist Vorreiter bei der Abwehr von Kollektivklagen und Massenverfahren. Mit einem spezialisierten Team von über 50 Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten der Praxisgruppe Class & Mass Action Defense berät Noerr regelmäßig bei der Verteidigung gegen Kapitalanlegermusterverfahren, Musterfeststellungsklagen und Verbandsklageverfahren ebenso wie bei der Abwehr von Inanspruchnahmen durch strukturierte Klagevehikel und in Massenverfahren.

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